Ein Gespräch mit Nikolaus Geyrhalter über den Dokumentarfilm Erde (Kinostart: 17.5.2019).
Die Weltkugel überlebt uns auf alle Fälle. (Nikolaus Geyrhalter)
Kulturwoche.at: Inwiefern lässt du dich von dem leiten, was du vorfindest? Und wie wenig Konzept hast du am Papier stehen? Wieviel Drehbuch gibt es?
Nikolaus Geyrhalter: Drehbuch gibt es gar keines. Es gibt eine Idee und es gibt eine Idee, wo das ungefähr hinführen soll. Es ist aber nichts schöner, als wenn man dann mit einer Realität konfrontiert wird, die anders ist als die, die man sich vorgestellt hat. Das ist auch der Unterschied zu Fernsehdokumentationen, die einfach von vorne herein durch gescriptet sind von A bis Z und jeder Sager eigentlich schon vorgeplant ist. So mag ich überhaupt nicht arbeiten und deswegen suche ich mir auch immer Themen, die sehr viel Freiheit lassen. Und genau dadurch sind wir offen gewesen und haben zum Beispiel diese alten Bäume in Ungarn gefunden, von denen wir vorher gar nichts wussten. Wir haben drei Absagen von drei anderen Kohleminen bekommen und quasi als letzten Ausweg es dann in Ungarn gedreht und eigentlich war es das Beste, was passieren konnte. Und so ist es uns öfters gegangen, in Spanien auch. Wir wollten Kupfer ganz woanders drehen, wir hätten es gerne in Chile gedreht oder in Südafrika. Niemand hat sich bereit erklärt, ein Filmteam hinein zu lassen. Und dann irgendwie in letzter Sekunde haben die Spanier gesagt: "Ist doch super. Kommt vorbei!", und die waren einfach wahnsinnig nett und dann gab es dort auch einen Mehrwert mit dieser Ausgrabung. Ich glaube, man muss sehr offen bleiben und darf sich auf keinen Fall vor Dingen verschließen, nur weil sie anders sind als man sich erwartet hat.
Trotzdem hat Erde eine sehr genaue formale Struktur. Du hast den Film so aufgebaut, dass jedes Mal, wenn ein neuer Ort kommt, du den Ort quasi zuerst einmal von oben gefilmt hast und von sehr weit weg und dadurch wirken die großen Maschinen auch so wie kleine Spielzeugbagger in einer Sandkiste. War das gewollt oder war das wirklich ein Bild, das du umsetzen wolltest? Und wie hast du es gefilmt?
Nikolaus Geyrhalter: Klar war das gewollt. Wir haben eine Möglichkeit gesucht, die Kapitel einzuteilen und einzuleiten. Und wir haben in der Recherche natürlich immer die Locations auch erst einmal von oben angeschaut. Da sieht man, wie klein eigentlich diese Riesenmaschinen sind und von welchen Dimensionen wir sprechen. Danach springt man dann eh näher hin. Aber sich erst einmal verschiedene Orte auf der Welt mit ein wenig Distanz anzuschauen und zu sehen, in welch großem Umfang das passiert, ist schon spannend. Das funktioniert so nicht immer - aber bei vielen Orten schon. Das war der Plan und umgesetzt haben wir es natürlich zum Teil mit Drohnen aber auch mit Hubschraubern. Und einmal haben wir ein Satellitenbild gekauft und animiert, weil man dort gar nicht fliegen durfte. Aber wenn ein Konzept einmal steht, dann muss man es einfach durchziehen, wurscht wie! Mit Drohnen kann man nicht so wahnsinnig hoch fliegen. Das ist alles mit einem Weitwinkelobjektiv gedreht und ist dann metermäßig meistens nicht so hoch, wie es ausschaut.
Das Satellitenbild gekauft und animiert, wie kann man sich das vorstellen?
Nikolaus Geyrhalter: In Kanada bei den Ölsanden ist das so, dass man wirklich weder mit Drohnen noch mit anderen Flugobjekten fliegen kann. Da ist ein totales Flugverbot, weil dort so viel Flugverkehr herrscht. Dort haben wir zwar mit Hubschraubern gedreht, aber dieses Anfangsbild auch nicht, weil da wollte ich für das Ende des Films eine noch viel größere Distanz haben als bei allen anderen Sequenzen. Und es gibt ja diverse Firmen, die diese Bilder eben verkaufen…
Das sind aber Standbilder...
Nikolaus Geyrhalter: ...das war ein Foto. Im Grunde genommen dasselbe Foto, das bei Google Earth eine Zeit lang verwendet wurde, inzwischen haben sie ein aktuelleres. Digital Globe heißt die Firma. Da ruft man an, sagt die Koordinaten und zahlt ein paar hundert Euro und kriegt es. Das ist relativ simpel. Und dann wurden in der Postproduktion alle LKWs herausgeschnitten, erst einmal das Bild sozusagen leer gemacht und dann die LKWs wieder durchgezogen, bewegt und Staubwolken dazugerechnet. Also wenn, dann muss es so gut funktionieren, dass es nicht auffällt. Es darf die Erzählung nicht irgendwie stören und es darf niemand anfangen, nachzudenken, warum das irgendwie komisch ist.
Jetzt hast du in dem Film, der sich ja ein Dokumentarfilm nennt, natürlich auch ein Fake-Bild drinnen in dem Sinn, also eines das nicht auffallen soll...
Nikolaus Geyrhalter: Nicht nur ein Fake-Bild, ganz viele Fake-Bilder.
Der Dokumentarfilm tut ja immer so, als würde er dokumentieren und das ist ja viel mehr als eine 'Dokumentation'. Du hast einmal auch gesagt, dass du dich nicht als Künstler siehst. Aber im Endeffekt ist es ein sozusagen künstlerischer Vorgang, ein Bild zu vermitteln, das es ja so nicht gibt. Wie viele dieser Eingriffe sind erlaubt oder ist es sowieso immer erlaubt?
Nikolaus Geyrhalter: Also erst einmal passiert es immer in jedem Film. Es ist absurd zu glauben, dass es nicht passiert. Seit digital gedreht wird, hat sich einfach auch die Arbeitsweise komplett verändert. Ich glaube, es kommt darauf an, dass man eine Wirklichkeit wiedergibt, die der Wirklichkeit entspricht. Vor allem bei diesen stehenden Interviewbildern, wo die Kamera quasi betoniert ist und sich nicht bewegt, wird das Mikrofon oft absichtlich ins Bild gehangen, damit man einen möglichst präsenten Ton hat. Nachher dreht man ein leeres Plate und rechnet den Himmel darüber und fertig. Das ist ein Aufwand von 10 Minuten. Ist das schon eine Wirklichkeitsverfälschung? Nein, ist es nicht. Weil es darum geht, eine Person zu zeigen, die hier steht und redet. Der Rest ist einfach technischer Umweg. Wenn man von oben wo hinunterschauen würde, sieht man, dass hier Autos fahren und dass es eine ziemlich große Umweltsauerei ist. Das wollten wir zeigen. Ob wir da jetzt echt im Hubschrauber auf 1000m hinauffliegen, oder vielleicht einen Satelliten finden, der Videobilder aufnehmen kann!? Also damit habe ich gar kein Problem. Ein Problem hätte ich damit, wenn wir in diesem Satellitenbild die Umweltschäden vergrößern würden. Das wäre einfach inhaltlich falsch. Aber solange es darum geht, mit technischen Mitteln, eine Wirklichkeit ins Kino zu transferieren, ist das vollkommen okay. Ich rede nicht von einer Wahrheit, weil Wahrheiten gibt es so viele wie es Menschen gibt. Jeder empfindet anders. Aber es gibt schon so etwas wie eine objektivierbare Wirklichkeit und das ist ungefähr das, was man sieht. Das sollte ins Kino.
Im Film ist ganz viel Raum für eigene Gedanken, weil sehr wenig gesprochen wird. Erde ist sehr subtil kritisch und dadurch, dass wenig gefragt wird oder wenig Struktur von außen kommt, erzählen die Leute eigentlich mehr. Wie kam es zur Entscheidung, deine eigene Meinung den Leuten nicht gleich aufzubrummen?
Nikolaus Geyrhalter: Weil ich das mag, wenn man sich seine eigenen Gedanken macht. Ich weiß es doch auch nicht besser. Eine Zeit lang gab es diese pädagogischen Dokumentarfilme, wo ein Filmemacher sowieso auf der richtigen Seite steht und dann wird irgendein Umstand angeprangert und das Publikum ist eh der Meinung des Filmemachers. Und am Schluss gehen alle raus und fühlen sich gut, weil die anderen die Bösen sind. Das funktioniert so nicht mehr.
Hat das jemals so funktioniert?
Nikolaus Geyrhalter: Naja, die Michael Moore Filme funktionieren so.
Ich meine jetzt nicht filmisch, sondern gedanklich. Dass man jetzt sagt, wir sind die richtige Seite.
Nikolaus Geyrhalter: Naja, gedanklich war das vor 15 Jahren noch ziemlich einfach, zu unterscheiden zwischen richtig und falsch. Inzwischen finde ich das nicht mehr. Uns ist klar geworden, dass dieses Blasendenken zu nichts führt, weil nicht eine Blase richtiger ist als eine andere. Wir glauben nur immer, dass wir die richtigen sind. Davon halte ich jedenfalls nichts. Ich halte weder was davon, richtig gegen falsch auszuspielen, noch Wissen gegen Unwissen oder Ähnliches. Ich weiß keine Lösung. Ich schau mir das an und ich staune und ich finde, man sollte darüber nachdenken. Und ich versuche, Bilder zu kreieren, die dieses Nachdenken befördern. Aber unterm Strich ist der Film eine große Fragestellung und keine Antwort.
Glaubst du, hat der Film im Nachhinein Auswirkungen auf die interviewten Arbeiter gehabt, dass irgendwo etwas hängen geblieben ist, vielleicht die Möglichkeit, sich selbst zu ändern?
Nikolaus Geyrhalter: Vor allem wenn man den Film dann als Ganzes sieht, sieht man einfach mehr von der Welt als das Arbeitsumfeld, das man jeden Tag sieht. Man sieht zwar den eigenen Part im Film, aber man sieht auch den Rest des Films als Publikum und denkt genauso über Zusammenhänge und über sich selber nach. Ich weiß nicht, ob das Publikum durch einen Film zu verändern ist. Das sind ja alles Illusionen. Da bräuchte es wahrscheinlich sehr viele Filme, um sehr wenig Veränderung zu bewirken.