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Thomas Edlinger, der Leiter vom Donaufestival in Krems (28. April bis 6. Mai 2017), betont in einem Interview mit Byte FM, dass 2017 "Brüche" eine besondere Rolle spielen. Starke Kontraste in der Chronologie des Programms sollen die Janusköpfigkeit des Empathie-Potenzials zwischen solidarischer Parteinahme und blinder emotionaler Instrumentalisierung wiedergeben. Schon am ersten Wochenende wird deutlich, dass heuer vor allem solche Künstlerinnen und Künstler eingeladen wurden, die in ihrem Profil auf starke politische Statements und energische Expressivität setzen. "Kunst braucht Distanz vom Alltäglichen", sagt der Aktionist Adolf Frohner, nach dem auch das Forum Frohner, einem Veranstaltungsort des Festivals, benannt wurde. Es erinnert passend daran, dass es eben immer das Andere, in diesem Fall das Künstliche braucht, um besser wahrzunehmen. 

Sehnsucht nach individueller Behauptung versus Zugehörigkeit 

"Du steckst mich an", das Motto des Festivals, legt zugleich den Gedanken der Kontamination nahe: oftmals sind es gerade neue Kombinationen und scheinbar unvereinbare Gegensätze, die eine solche Dichte erzeugen, damit Bilder, Ideen, Diskurse, kurz: Sprache, generell von Kontaminationen befreit werden kann. Das Artifizielle und die Verfremdung haben sich als Mittel schon oft bewährt, gewohnte Blickwinkel außer Kraft zu setzen. Mit den heurigen Beiträgen entgegnet man den täglichen Authentizitätsversprechen und Mitleidsbekundungen der medial inszenierten Gefühlsmaschinerie vor allem mit sinnlich erzeugter Verfremdung. Zentraler Bezugspunkt für die empathischen Suchbilder ist also der Körper im Geflecht der Zuschreibungen, der um empathische Parteinahme ringt, oder eben gerade nicht. Es geht also um das Spiel der Deutungshoheit, das vom Grundkonflikt zwischen der Sehnsucht nach individueller Behauptung einerseits und Zugehörigkeit andererseits bestimmt wird.


 

Gemeinschaftsbildung versus Abgrenzung 

Diese menschliche Grundzerrissenheit bringt Ligia Lewis in ihrer Performance minor matter (Koproduktion mit Hau Hebbel am Ufer, Dramaturgie: Ariel Efraim Ashbel) anhand der schwarzen Erfahrung stellvertretend für die Erfahrung einer Minderheit auf den Punkt. Die schwarze Geschichte, verstanden als Geschichte der 'colored people’', also der Nicht-Weißen, was nicht nur Afroamerikaner umschließt, ist geprägt von Apokalypse und Utopia. Innere Kollektivzwänge hemmen und befördern gleichzeitig das Streben nach Singularität. Die Performerin mit dominikanisch-amerikanischem Hintergrund, die derzeit in Berlin lebt, erkundet mit zwei weiteren dunkelhäutigen Performern unterschiedliche Zustände der Gemeinschaftsbildung und Abgrenzung. Gemeinsam beanspruchen sie den Raum der Bühne für sich und arbeiten sich sinnlich und experimentierfreudig daran ab. Am Ende sind sie wieder völlig im Hier und Jetzt der Bühne angekommen. Also zeigt sich: Blackness ist mit der Black Box des Theaters vergleichbar: ein Möglichkeitsraum, der in seiner Flüchtigkeit dennoch stets limitiert bleibt. 

Politische Diskurse versus persönliche Befindlichkeiten 

Nach dem Solo "Sorrow Swag" ist minor matter als Trio (Lewis gemeinsam mit Jonathan Gonzalez und Hector Thami Manekhela) der zweite Teil des Triptychons "Blue, Red, White", das kurz nach der US-Wahl Premiere feierte. Trumps Aversion gegenüber kulturelle Vielfalt und Minderheiten oder Nigel Farage's folgenreiche Mobilisierung für den Brexit werden auch in der Performance zwar kurz angesprochen, aber sofort wird gleich wieder zu den persönlichen Befindlichkeiten der Künstlerbiographie gesprungen. Immer wieder gibt es solche Schwenks, die politische Diskurse herunterbrechen auf das Hier und Jetzt oder das Eigene.

Liebe versus Wut 

Der Symbolik der Farbe nach polarisiert sie in der in Rot angelegten Arbeit zwischen den Extremen Liebe und Wut. Demensprechend kommt es zum hochintensiven Spannungsverhältnis zwischen Gemeinschaft und Singularität, dem die Performer mit hohem Körpereinsatz nachgehen. Feierlich erwachen die seltsamen Geschöpfe zu Ravels Fanfaren aus Boléro, um gleich darauf wieder in die Nacht zu tauchen und sich zu House ihren ganz eigenen feierlichen Raum frei von herrschenden Identitätszwängen zu nehmen. Mit einer unglaublich dichten Intensität nehmen die Performer in schneller Abwechslung tradierte weiße Musik- und Tanzstile auf und zersetzen sie. Maurice Ravels Boléro wird zu einem Housetrack und nach der triumphierend-ekstatischen Fanfare-Choreographie (Lewis zitiert hier Muarice Béjarts Choreographie Boléro aus dem Jahre 1960) finden sich die Performer wieder in Verzweiflungszuständen am Boden oder in gegenseitiger Rage. Sie reißen schlagartig verschiedene Zustände existenzieller Konflikte an, um sie dann wieder mit einem kräftigen Ruck abzuschütteln und sich so davon zu befreien.

Ihre Körper fungieren als Medien und spiegeln Geschichten der Unterdrückung, Unsichtbarkeit (eine perfide Form des Rassismus ist die Negation der Anderen) und Duldung genauso wie Aufbruch, Rastlosigkeit und Neuanfang. Lewis vermittelt mit ihrer intimen und sinnlichen Poesie der Spiegelung einer anonymen, aber keineswegs abstrakten Erfahrungsgeschichte auf der Bühne das Potenzial, das von der Kraft der Überschreibung ausgeht. Ihre radikale Gleichbehandlung des Raums für stets beides, Licht und Schatten, Abwehr und Annahme, Eigenem und Gemeinsamen, schafft transhistorische Verbindungen und trifft den Nerv der Zeit. Die inhaltliche Tiefe und das passionierte Engagement, welche anhand der dramaturgischen Kontraste und emotionalen Bandbreite hier geboten wurden, zeugt von einer gründlichen Ernsthaftigkeit. Ligia Lewis und ihre Performer haben ohne Pathos oder Klischées nachdenklich gestimmt und zugleich sehr berührt. Gebührender Applaus.


 

Archäologie von Energie

Die österreichische Künstlerin Doris Uhlich, bekannt für ihr Nacktheits-Postulat in ihrem Schaffen, zeigte gemeinsam mit 30 PerformerInnen, die teils auch ihrem seit 2013 bestehenden more than naked-Ensemble entstammen, eine Performance in der Dominikanerkirche, bei der die Metaphorik der Ansteckung durchgespielt wird. Mit ihren nackten Performern, die ihren eigenen Körper bzw. sich gegenseitig in Schwingung versetzen, möchte sie ein ganzes Habitat an ungeahnten Lebensformen erfahrbar machen. Damit öffnet sie ein weiteres Kapitel ihrer Erforschung der "Archäologie von Energie". Mit energetischer Ansteckung kennt sich Uhlich bestens aus. Seit geraumer Zeit nun setzt sie sich mit dem Potenzial der Übertragbarkeit von energetischen Zuständen, Dynamiken und deren Abstufungen im Schaltkreis Mensch, Maschine, Sound auseinander. 

Unmittelbare Übertragung der Beseelung 

Diesmal steht die Energie einer Gemeinschaft im Vordergrund und Uhlich inszeniert einen wirklich sehr anmutigen wie auch subversiven kollektiven Bewegungskörper. Flirrende Tableau Vivant, bestehend aus den bebenden und zitternden Körpern der Performerinnen und Performer, formieren sich unter dem Lichteinfall der Mauerhohen Fenstern fließend in die Höhe und den Raum hinein.

Am Ort des Altars, an dem in römisch-katholischen Kirchen die Eucharistiefeier zelebriert wird, feiern die Performerinnen in der bereits 1786 säkularisierten Dominikanerkirche an dessen Stelle eine etwas andere Art der kollektiven spirituellen Zusammenkunft.

Die symbolische Feier des (geopferten) Leibes (Christi) der christlichen Heilslehre weicht hier einer Zeremonie ekstatischer Anregung: Die Körper selbst sorgen mit ihrer genuinen Beschaffenheit für die unmittelbare Übertragung der Beseelung. 

Rituale der Selbstdarstellung 

Zweifellos setzen Uhlichs Mitwirkende mit dieser Performance auch ein starkes nonverbales Statement gegen das hegemoniale Diktat der Schönheitsindustrie und dem westlichen körperlichen Perfektionsstreben. Uhlich selbst stand nackt am DJ-Pult und sorgte für die Techno-Untermalung. Der Faktor Nacktheit, der diese Performance maßgeblich prägt und erst dadurch von einem Techno-Tanz-Flashmob abhebt, mag ein banaler sein, ist aber interessanterweise trotz der gegenwärtigen kulturellen Körperfixierung in Ritualen der Selbstdarstellung ein Tabu und somit ein Ort der Machtaustragung. Dieses weitreichende und brisante Thema rein sinnlich aufzugreifen, gelingt ihr sehr gut. Sie macht damit anschaulich, welche kraftvolle Energie in Form von Vibes von einem sozialen Körper ausgehen, wenn die Individuen sich gemeinsam ihrer emanzipatorischen Macht bewusst werden. Es gab dafür ausgelassenen Applaus in der gut besuchten Dominikanerkirche.


 

Binäre Geschlechterdichotomien & heteronormative Beziehungskonstellationen 

In ihrer Videowerkserie "Seeing Difficulties" (Galerie am Eck) widmet sich die vielseitige Künstlerin Vika Kirchenbauer der Beobachtung intimer Körpererfahrungen. Die zudringlichen Nahaufnahmen von bewegten Körpern, die mit digital zerstäubtem Soundtrack unterlegt wurden, befragen medientechnisch gestützte Blickregime. Es soll offengelegt werden, dass das "Wissen um den Anderen" in "Liebes- und Kriegsökonomien" stets ein Machtinstrument darstellt. Abgesehen vom Thema Kontrollstaat unterwandert die Darstellung Geschlechts-unspezifischer, verfremdeter Körper in den drei Videos von Kirchenbauer auch binäre Geschlechterdichotomien und heteronormative Beziehungskonstellationen.

Techno-Noise-Passagen & raue Ambient-Loops

Yves Tumor, das Solo-Pseudonym von Sean Bowie, der anstelle von Mykki Blanco kurzfristig noch eingesprungen ist und aus dessen Umfeld kommt, wird aufgrund seiner dunklen Aura eher als "Schlangenbeschwörer" oder "Hypnotiseur" (Pitchfork) denn als experimenteller Musiker bezeichnet. Dazu trägt sicher auch seine obskur gehaltene Biographie bei, die das eigentlich aus Tennessee stammenden Multitalent, soviel ist sicher, in den letzten Jahren schon quer durch Europa verschlagen hat. Während dieser Zeit ist auch sein Debütalbum Serpent Music entstanden. Bekannt für kontrastreiche, atmosphärische Stimmungen, war seine Darbietung in Krems, mit Ausnahme einer abschließenden Glamour-R’n’B-Nummer, von peitschenden Techno-Noise-Passagen und rauen Ambient-Loops geprägt. Im Verhältnis dazu war seine Bühnenshow etwas unspektakulär und monoton.














 

Noise-Rap-Soundcollagen & Free Jazz-Anleihen 

Einer der Höhepunkte des ersten Festivalwochenendes war der Auftritt der experimentellen US-Musikerin und Aktivistin Camae Ayewa aka Moor Mother. Nachdem ihr 2016 erschienenes Album "Fetish Bones" von der Musikkritik als eines der wichtigsten progressiven Neuerscheinungen des Jahres und als Rückkehr der politischen, engagierten Schwarzen Musik gefeiert wurde, sind die zornigen Noise-Rap-Soundcollagen mit Free Jazz-Anleihen der Spoken Word Protest-Poetin aus Philadelphia auch diesseits des Atlantiks eindringlich zu vernehmen. Im Gegensatz zur weitaus erfolgreicheren Beyoncé, die den Traum einer privilegierten schwarzen Frau für viele vorlebt, geht es in Moor Mothers "Slaveship-Punk" vor allem um die Schattenseiten der Afro-Diaspora, die noch nachwirken. Sie sieht sich nicht nur als Sprachrohr eines immer noch diskriminierten Teils der Gesellschaft, sondern auch als Vertreterin eines neuen Bewusstseins schwarzer Identität, deren Geschichte nicht erst mit der Sklaverei beginnt, auch Afro-Futurismus genannt. Daher auch der Name, Moor Mother, der auf die Suche nach der prä-modernen schwarzen Identität anspielt, die das Bild von der passiven, angepassten Opferrolle umkehren will und von "self-love" und "explorers" spricht. 

Afro-Diaspora-Codes quer durch raumzeitliche Ereignisse 

War schwarze Erfahrung bei Ligia Lewis noch Ausgangspunkt für mögliche minoritäre Aneignungen sowie Überschreibungen, sampelt Moor Mother Codes quer durch raumzeitliche Ereignisse, welche die Afro-Diaspora betreffen. Auf diese Weise greift sie vermeintlich abgeschlossene Traumata als Folge von Rassismus und Sklaverei wieder auf, überzeugt davon, dass deren emotionale und psychische Folgen noch immer nicht verstanden sind. Auch jüngere gewaltreiche Vorkommnisse bezüglich Polizeigewalt gegenüber Schwarzen bzw. die anhaltende Diskriminierung und Passivität seitens der Politik in den USA in den letzten Jahren werden aufgegriffen.

Konkret weist Ayewa in Interviews immer wieder auf die diskriminierende Behandlung von schwarzen Frauen in US-Gefängnissen hin und auf die tragischen Schicksale, die sich dort abspielen. In einem ihrer Samples kommt beispielsweise Sandra Bland vor, die im Gefängnis in Texas selbstverschuldet erstickt sein soll, drei Tage nachdem sie wegen eines harmlosen Verkehrsdelikts verhaftet worden war. Ungeklärt ist auch der Fall der psychisch kranken Natasha McKenna, der von Ayewa aufgegriffen wird: 2015 starb die 37-jährige Frau in Fairfax, Virginia, an den Folgen eines Taser-Einsatzes der Polizei. Obwohl sie an Händen und Füßen gefesselt und ihr zudem eine Art Maulkorb verpasst wurde um Bisse zu vermeiden, wurde sie 17 Minuten lang mit einem Taser misshandelt. Zwar veröffentlichte ein Sheriff das Video, in dem der Vorfall dokumentiert ist, jedoch wurden jegliche Vorwürfe gegen die beteiligten Polizeibeamten fallen gelassen. 

Unerbittlich rau & apokalyptisch 

Das Spoken Word prasselte nieder wie Gewehrsalven. Der unerbittlich raue und apokalyptische Ton in ihrem Low-Fi-Rap ist in hiesigen Musiklandschaften wohl eher ungewohnt genauso wie die Vehemenz und inhaltliche Komplexität ihrer Performance. Trotz der eher eintönigen Hintergrund-Visuals, agierte Moor Mother interessiert-konfrontativ und gegen Ende hin immer interaktiver. Auch für die Künstlerin muss der Kurztrip nach Krems fernab der amerikanischen 'multi-racial' Realitäten etwas exotisch gewirkt haben. Ein echtes Highlight! // 

Text: Kathrin Blasbichler
Fotos: Vika Kirchenbauer, Mysti and VG Bild Kunst; Dorothea Tuch; David Visnjic / Donaufestival