Mit einer schaurig-schönen "Winterreise" von Franz Schubert, als Trio für Sänger, Pianist und Filmprojektor, gingen die Wiener Festwochen 2014 am 15.6. zu Ende. Es ist die erste und letzte - außerordentlich stimmige - gemeinsame Saison von Intendant Markus Hinterhäuser und Schauspieldirektorin Frie Leysen. Letztere verlässt das Team leider vorzeitig.
Balsam für Augen und Ohren
Intendant Markus Hinterhäuser am Klavier und Bariton Matthias Goerne wurden bei ihrer musikalisch tief gehenden, frühsommerlichen "Winterreise" assoziativ begleitet von 24 zauberhaften Animationsfilmen des südafrikanische Künstlers William Kentridge, dessen Arbeiten (Ausstellungen, Lectures, Operninszenierungen) in aller Welt gezeigt werden. So beeindruckte bei ImPulsTanz 2013 bereits Kentridges Multi-Media-Oper "Refuse the Hour", mit der William Kentridge das Wiener Publikum für sich einnahm. "Steinzeitliches Filmemachen" nennt er seine Arbeit, bei der er auf Seiten alter Bücher zeichnet, radiert, übermalt und in Stop-Motion-Technik filmt. Das Ergebnis sind metaphorische Filme von unglaublicher Schönheit, die nicht versuchen, das musikalische Geschehen zu "bebildern". Vielmehr findet Kentridge visuelle Entsprechungen, die den Rhythmus zart aufgreifen und mit ganz Eigenem ergänzen und erweitern.
Mutige Akzente
Im Musikprogramm wurden von Markus Hinterhäuser mutige, neue Akzente gesetzt, die über weite Strecken in der Kritik positive Resonanz fanden. So verpflichtete er den italienischen Regisseur Romeo Castellucci, der 2013 für sein Lebenswerk mit dem Goldenen Löwen der Biennale von Venedig ausgezeichnet worden ist, als Regisseur für Christoph Willibald Glucks "Orfeo ed Euridice". Castellucci fasziniert und verstört gleichermaßen mit seinen Arbeiten. Seine Euridice besetzte er mit Karin Anna Giselbrecht, einer Wachkomapatientin in der Neurologischen Abteilung des Krankenhauses Lainz, jedoch nähert er sich dem Thema mit der nötigen Sensibilität und der ihm eigenenbeharrlichen Akribie und Sorgfalt an, Publikum und Kritik reagierten beinahe einhellig positiv.
Die Oper lebt
Die Neufassung von Georg Friedrich Haas's Oper "Bluthaus" mit einem Libretto von Händl Klaus wagte sich in die Tiefen familiärer Abgründe vor. Haas betrachtet Oper als lebendige Kunstform, die sich mit aktuellen Themen beschäftigen muss. Es geht um Nadja, eine junge Frau, die in ein Inzestdrama mit ihrem Vater verwickelt war. Die Mutter erstach den Vater und tötete sich selbst. Nadja möchte das Haus, in dem die Geister der Eltern sie wieder und wieder einholen, verkaufen, aber die Vergangenheit lässt sie nicht los. Für "Bluthaus" komponierte Haas zwei Ebenen: Meist nur aus Lauten besteht die Sprache der Sänger (Bassbariton Otto Katzameier als unheimlicher, getriebener Vater; Makler: Countertenor Daniel Gloger) und zwei Sängerinnen (die gesanglich vielschichtige Sopranistin Sarah Wegener überzeugt als Tochter Nadja; Ruth Weber, ebenfalls Sopran, überzeugt als tragische Mutterfigur). Daneben gibt es noch Schauspieler und Schauspielerinnen, die Interessenten für das Haus darstellen. Dieser Teil der Handlung wirkt ausufernd. Die Ebene der Sprechstimmen - von Librettist Händl Klaus werden beinahe alle Sätze aufgespalten und auf mehrere Sprecher aufgeteilt - geht nicht überzeugend auf. "Die unterschiedlichen Sprecher balgen sich um diesen Sprachkörper, der da gemeinsam entsteht, aber ständig umschlägt, weil einer dem andern das Wort im Mund umdreht, oder abgräbt...", so der Librettist zu seinem Text. Als Zuhörerin gibt man sich jedoch, ob der allzu zerrissenen Textflut im Mittelteil der Oper, geschlagen. Die Sprechpassagen werden zu Wortaneinanderreihungen, bei denen leicht der Sinn abhanden kommt. Striche hätten dem Libretto sicherlich gut getan.
Auflösung von Genregrenzen
Ein großer Teil der Produktionen der Wiener Festwochen 2014 löste die klaren Genregrenzen auf, so etwa "Coup Fatal": Es handelt sich dabei um ein vom bekannten belgischen Choreografen Alain Platel für die Bühne arrangiertes, höchst eigenwilliges Konzert. Der aus dem Kongo stammende Countertenor Serge Kakudji singt Arien von Georg Friedrich Händel und Christoph Willibald Gluck. Die Barockmusik aber wurde von Komponist Fabrizio Cassol (Belgien) und Rodriguez Vangama (Kongo) völlig neu, ohne klassische Instrumente arrangiert. Zu den Arien spielen E-Gitarre, Akustische Gitarre, Bassgitarre, Likembe, Xylophon, Balafon, Percussion-Instrumente und die aus dem Kongo stammenden Musiker tanzen dazu. Was sehr lebenslustig und farbenfroh daherkommt, hat durchaus - wenn auch allzu sehr versteckt - ernste Botschaften hinter der, zuweilen etwas klischeehaft gute Laune machenden Fassade, die da präsentiert wird: Der golden schimmernde Bühnenvorhang des kongolesischen Künstlers Freddy Tsimba ist aus Patronenhülsen - ein Symbol für die im Krieg Verstorbenen. Szenen der "Sapeurs" aus den Armenvierteln von Kinshasa, die sich aus Second-Hand-Kleidung stylische Outfits kreieren, werden zu einer schräg-grotesken Verkleidungsshow, die kaum mehr über die Situation des Landes erzählt. Auch musikalisch bleibt es gewöhnungsbedürftig, Barock-Arien, begleitet von afrikanischer Percussion zu hören. Obgleich der Funke guter Laune auf das Publikum überspringt, vor allem auch bei Eigenkompositionen des Ensembles und bei Nina Simones "To be young, gifted and black", fehlen die Momente, in denen die Probleme des Landes etwas mehr als oberflächlich thematisiert werden.
Entdeckungen im Schauspiel-Programm
Im Schauspiel-Programm gab es gar manche Entdeckung zu feiern: Herauszuheben sind dabei der russische Regisseur Konstantin Bogomolov, der "Stavangera (Pulp People)", ein Gastspiel des lettischen Liepaja teatris inszeniert hat. Er hat - als eine Reminiszenz an Reality-TV - eine Glasbox auf die Bühne gesetzt, in die er eine lettische und eine norwegische Familie in dieselbe kleine Wohn-Schlaf-Küche verfrachtet hat. Heraus kommt eine rabenschwarze Globalisierungskomödie mit abgefahrenen Dialogen, Gedanken und Kommentaren, die auf mehreren Ebenen gleichzeitig auf das Publikum einprasseln: als Laufschrift über der Bühne, als live-gefilmte Sequenzen und Einspielungen über die Fernsehgeräte auf der Bühne und über gnadenlose Dialoge, die - so absurd sie auch sein mögen - immer auch Abgründe unserer Zeit zeigen.
Erwachende Geschlechtlichkeit
Ein weiteres Highlight, an erfrischender Absurdität auch kaum zu übertreffen, ist Kuro Taninos "Die Kiste im Baumstamm", ein von Freud mehr als geküsster, feuchter Buben-Alptraum um Kastrationsangst und Ödipuskomplex. Auf einer Drehbühne mit wundersamen Zimmern, Kammern, doppelten Böden, Fenstern und Klappen statt Türen, durch die ein in die Jahre gekommener Student von einem Grusel-Kabinett ins nächste flüchtend klettern muss, entspinnt sich ein surrealistischer Traum um Versagensängste und erwachende Geschlechtlichkeit. Bevölkert ist der Traum von einem kochenden Schwein und einem Schaf, einer klavierspielenden Kuh - und Phallussymbolen aller Größen und Ausführungen.
Wenn Geschichte mit dem Heute verschmilzt
Eine weitere Entdeckung für die Bühne ist der aus Singapur stammende Künstler und Filmemacher Ho Tzu Nyen, der für "Ten Thousand Tigers" in der Halle G im Museumsquartier die Bühne zu einem Reliquienschrein mit unzähligen Einzelfächern umfunktioniert hat. Fächer, in denen mittels Puppenspiel Kriege gefochten werden, in denen Getreide wächst, Wasser sprudelt, alte Bücher neben analogen Tonabspielgeräten und digitalen Videobildschirmen stehen und Menschen Geschichten vom malaysischen Tiger - und von dessen Ausrottung - erzählen. Und von Menschen, die wie der Tiger die malaysischen Geschichte maßgeblich geprägt haben: Eine poetische Arbeit, in der die Geschichte mit dem Heute verschmilzt.
Liebevoll ausgewählte Produktionen
Die Wiener Festwochen 2014 waren eine Schau von liebevoll ausgewählten Produktionen mit Künstlern und Künstlerinnen aus 22 Ländern. Neu war auch eine Kooperation mit dem Stadtkino, in dem eine Personale des in Malaysia geborenen, in Taipeh lebenden Tsai Ming-liang gezeigt wurde. Ebenso war eine Ausstellung mit Filmen des ägyptischen Künstlers Wael Shawky zu sehen, dessen von den Wiener Festwochen koproduzierter Film "Al Araba Al Madfuna II" hervorgehoben werden kann. Der Film erzählt zwei Märchen des 2006 verstorbenen ägyptischen Autors Mohammed Mustagab im Schauplatz einer antiken Stadt. Im Gartenbaukino wurde die neue Filmoper des bedeutenden Künstlers Matthew Barney gezeigt, in die bildgewaltige Dokumentationen von Performances einfliessen, bei welchen monumentale Skulpturen gegossen wurden.
Stimmiges Gesamtprogramm
Insgesamt können die Ergebnisse der Zusammenarbeit zwischen Markus Hinterhäuser und Frie Leysen als durchaus sehr erfreulich angesehen werden - trotz angedeuteter Differenzen, die zur vorzeitigen Auflösung von Frie Leysens Vertrag geführt haben. Man munkelte u.a. von Schwierigkeiten aufgrund des Budgets, das für die Schauspieldirektion kein eigenes Portefeuille vorsieht. Mit Blick auf die gelungene Programmauswahl ist jedoch heuer ein deutlicher Wandel von vormals einzelnen, Star bestückten, meist zentral auf den auch Regie führenden Intendanten zugeschnittenen Produktionen, auf ein stimmiges Gesamtprogramm zu bemerken. (Text: Veronika Krenn; Fotos: Lukas Beck, Luca Del Pia, Esplanade, Ziedonis Safronovs, Wael Shawky, Aki Tanaka, Chris Van der Burght, Ruth Walz)
Ausstellungs-Tipp:
Meeting Points 7: Zehntausend Täuschungen und hunderttausend Tricks
21er Haus (bis 31.8.2014)
Kuratiert vom Zagreber Künstlerinnenkollektiv What, How and for Whom/WHW
Fakten und Daten zu den Wiener Festwochen 2014:
Vom 9. Mai bis zum 15. Juni 2014 waren bei den Wiener Festwochen insgesamt 38 Produktionen aus 22 Ländern zu sehen, es wurden dabei 50.561Karten ausgegeben, so die Bilanz des Festwochenbüros. Die Auslastung betrug 95,30 %, bei einer Gesamtbesucherzahl von 155.318. Die Wiener Festwochen 2015 finden vom 15. Mai bis 21. Juni statt.