Achtung: Bereitmachen! 100 Wienerinnen und Wiener, ausgewählt nach einem statistischen Raster, stellen sich - als repräsentativer Querschnitt der Stadt - den Fragen von Rimini Protokoll. Bis ein Mitarbeiter des Statistischen Zentralamts gleich viele Personen befragt hat, muss er deutlich mehr Anrufe tätigen, Überzeugungsarbeit leisten und gelegentlich auch mit einer Verwaltungsstrafe (bis zu 280 €) für eine Auskunftsverweigerung drohen. Schauplatz der großen Frage-Antwort-Inszenierung war die Halle E im Museumsquartier.
"Ich bin Kindergartenkind, man kennt mich an meinem Teddybären und ich habe meinen Papa mitgebracht."
Es beginnt mit einer Vorstellrunde. Die Nr.1 wurde von Rimini Protokoll nominiert, der hat den nächsten ausgewählt und so weiter. Da ist natürlich einer dabei, der heute Geburtstag hat, einer kommt von seiner Sponsion (dafür gibt es Anerkennungsapplaus, wie auch für manch andere Bekenntnisse im Laufe des Abends), einer ist nur die Vertretung und die Nr. 100 spielt die Rolle des noch fehlenden verheirateten Mannes, weil er zumindest das richtige Alter hat.
Ich - Ich nicht
Nach einem pantomimisch nachgespielten Tagesablauf wird der Kreis in zwei Bereiche geteilt: "Ich" und "Ich nicht". Die Choreografie des Antwortgebens wechselt mehrfach, wodurch der Abend kurzweilig bleibt. Wer liest und wer fälscht Statistiken? Jeden Tag auf die Statistik sieht nur eine Dame, sie wohnt gegenüber. Die Mehrheit ist dafür Griechenland zu unterstützen, Parteimitgliedschaft ist nicht gleich mit politischer Aktivität, für das Burkaverbot ist ein Drittel, für die Homoehe schon doppelt so viele. Ein Viertel könnte sich vorstellen die Stadt zu regieren. Für den größten Wiener (da standen Romy Schneider, Falco, Johann Strauss, Siegmund Freud und "Ich" zur Auswahl) halten sich etwas weniger. Bei "Wer glaubt an Gott" und "Wer ist verliebt" kommt es zu einem nahezu kompletten Seitenwechsel. So ergibt eine Frage die nächste und langsam bekommen die Teilnehmer ein Profil.
Aus Tortenecken werden Individuen
Ich glaube zu wissen, wer eine Waffe besitzt, wer schon einmal ein Gesetz übertreten hat, deswegen auch im Gefängnis saß, trotzdem schwarz fährt, krank ist, Medikamente nimmt und in 10 Jahren wahrscheinlich nicht mehr lebt. Diese Person gehört zu denjenigen, die immer alles richtig gemacht, aber an diesem Abend auch mal gelogen haben. Anhand des Programmhefts könnte ich an dieser Stelle auch ihren Namen nennen. In "100 Prozent Wien" werden aus den Tortenecken der Statistik wieder Individuen. So wie diese auf Ansage drauf losgranteln können, sind sie eindeutig echte 100% Wien. Demographische Prozesse und die Erfassung des Alltags gehören zu den Kernkompetenzen von Rimini Protokoll. Für die Wiener Festwochen haben Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel ihr Projekt "100 Prozent Berlin" adaptiert und damit Wien auf die Bühne gebracht. Großer Jubel. (Text: Christine Koblitz; Fotos: Nurith Wagner-Strauss)
Kurz-Infos:
100 Prozent Wien
Bewertung: @@@@@
Spielort: Halle E im Museumsquartier
Konzeption, Buch, Inszenierung: Rimini Protokoll
Bühne / Mascha Mazur
Dramaturgie / Sebastian Brünger, Elisabeth Schack (Wiener Festwochen)
Recherche und Durchführung der Kettenreaktion / Philip Jenkins
Mit 100 Wienerinnen und Wienern und der Band Fatima Spar and the Freedom Fries
PRODUKTION Wiener Festwochen (2010)
"100 Prozent Wien" ist eine stadtspezifische Weiterentwicklung des Projekts "100 Prozent Berlin", Hebbel am Ufer / HAU , Berlin 2008.