Geradezu ein Quantensprung gelang Max Raabe gemeinsam mit Annette Humpe - der früheren Sängerin von Ideal, Produzentin und Komponistin - mit dem Album "Küssen kann man nicht alleine".
"Ich würde am liebsten mit dem Rücken zum Publikum stehen wie Bob Dylan und mit den besten Kumpels Musik machen", sagte einmal Annette Humpe in einem Interview mit Spiegel Online. Tatsächlich geht sie bereits seit Jahren einen Schritt weiter, lässt sich gar nicht mehr auf der Bühne blicken und sorgt dennoch unablässig für qualitativ hochwertiges Liedmaterial. Diesmal also mit Max Raabe, die Vorgeschichte dürfte bereits leidlich bekannt sein, Humpe fiel eines Tages die Zeile "Küssen kann man nicht alleine ein" und dachte dabei an Max Raabe, rief ihn also an und schwuppdiwupp entstand ein großartiges Album mit 12 Liedern in doppelter Ausführung - einmal elektronisch generiert mit eingebauten Orchestersamples, einmal in gewohnter Manier mit dem Palast Orchester.
Wer es nicht ganz deluxe haben will bekommt die poppigere Version auch als Einzel-CD. Der fantastische Liedreigen beginnt mit dem charmanten Titellied, der bereits die Richtung vorgibt, den musikalischen Geist der Weimarer Republik mit der Gegenwart zu verbandeln. Sorgfältig ausgearbeitete Arrangements und Liedtexte, mit der ganzen Palette an Gefühlen: trockenhumorig, süffisant, melancholisch, selbstverliebt, arrogant, schüchtern... Nach dem unglaublichen Titellied sorgt das Autorenteam Raabe/Humpe gleich mit dem nächsten Höhepunkt. "Ich bin nur wegen dir hier" vereint - ähnlich wie das Titellied und doch ganz anders - aberwitzige Reimstaffetten mit einer einprägsamen Melodie. Seelenlandschaft auf Cinemascope hört man in "Du weißt nichts von Liebe", dem, vom ästhetischen Anspruch betrachtet, wohl schönsten Lied auf dem Album. Dem folgt der Schwachpunkt des Albums, "In geheimer Mission" und auch das nachfolgende "Täglich besser" ist mehr Füllwerk denn Meisterwerk.
Dieses Tief überwunden hören wir Raabe in seinem unverwechselbaren Bariton das elegische "Eifersüchtiger Mann" singen. Von da an gibt es in Folge nur noch bemerkenswert gutes. So etwas nennt man Krisenbewältigung. Apropos: "Ich hab sie gar nicht kommen seh'n / plötzlich stand sie da, groß wie ein Riese / Sie sagte: Hallo, Guten Tag, mein Name ist Krise", singt Raabe scheinbar emotionslos in dem sehr emotionalen Lied "Krise". Überwältigend. Und mit "Doktor, Doktor" folgt quasi der dritte Hit. Zwischen bayerischer Ländlichkeit, orchestralen Feinheiten und ein in Larmoyanz getauchter Text erweist sich "Doktor, Doktor" als ein perfektes Beispiel gegenwärtiger Popmusik, die ihre Wurzeln aus den 1920er/30er Jahren und der Neuen Deutschen Welle nicht verleugnen möchte. "Wenn ich du wär'" wiederum könnte Dylans "Positively 4th Street" als Vorbild genommen haben, weniger musikalisch freilich denn von der Textidee. Sang Bob Dylan "Yes, I wish that for just one time / You could stand inside my shoes / You'd know what a drag it is / To see you", dichtete Annette Humpe möglicherweise anlehnend daran "Einen Tag möcht ich nur mit dir tauschen / und du fühlst dann mal, was ich fühl / Danach würd ich schnell wieder untertauchen / weil ich dich nicht erschrecken will". Mehr als gelungen auch die letzten drei Lieder des Albums. Zunächst einmal das opulente "Mit dir möchte ich immer Silvester feiern" mit der fast schon euphorischen Liebeserklärung "Mit dir könnt ich glatt den Vatikan erneuern". Fast schon einsam gut die einzige Cover-Version des Albums, "Krank vor Liebe" von Susanne Betancor (Popette), und schließlich zum Abschluss das "Schlaflied", in dem ein Pinguin am Südpol sitzt und schaut, ob sein Gletscher taut, während ein Zebra seine Streifen zählt, Kranichschwärme Richtung Meer aufsteigen und ein Pandapärchen sehnsuchtsvoll hinterher schaut - "und morgen, wenn du wach wirst, bring ich Frühstück an dein Bett". Dieses Album von Max Raabe kann locker zu den erfreulichsten Neuerscheinungen der letzten Jahre gezählt werden. (Manfred Horak)
CD-Tipp:
Max Raabe: Küssen kann man nicht alleine
Musik: @@@@@
Klang: @@@@@
Label/Vertrieb: Decca/Universal (2011)