Es gibt kaum einen lebenden Schriftsteller, der den Literaturnobelpreis derart verdient hat wie Peter Handke.

846 Bücher von und mit Peter Handke oder mit Handke-Bezug inkl. Übersetzungen, 8.345 Zeitungsartikel seit 1997 in digitaler Form, 200 Mappen mit Zeitungsausschnitten vor 1997, 55 Tondokumente und 25 Literaturverfilmungen umfasst das Archiv im Literaturhaus Wien zur Person Peter Handke, der bekanntermaßen den Nobelpreis für Literatur 2019 zugesprochen bekam.

Pro-europäische Wahrnehmung

Reduziert wird der in Griffen (Kärnten) geborene Autor in den Social Media Kanälen wie z.B. Facebook und Twitter vor allem auf ein Buch (Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien; 1996), und nebenher wird ihm vorgeworfen, ein "alter weißer Mann" zu sein. Absurd genug. Wobei - wenn man sich die Shitstorm ähnlichen Tweets durchliest - der Verdacht aufkommt, dass kaum jemand von all den Shitstormern dieses Buch tatsächlich gelesen hat, oder, wie es seine Tochter Amina Handke in einem Interview formulierte: "Dort [auf Facebook; Anm.] war die Dynamik eh absehbar. Das ist der Ort, wo alle eine Meinung haben, die eh nichts wissen." Und sie merkt auch völlig zurecht an, dass dieses eine Buch viel differenzierter sei "als das, was man so proserbisch nennt."

Dabei habe Peter Handke in seinem Werk vor allem "die medial geschürten Feindbilder gegenüber den Serben aufzulösen" versucht. Seine Forderung nach "Gerechtigkeit für Serbien" entpuppt sich - wenn man das Buch liest - als pro-europäische Wahrnehmung, die vielen die Augen für unseren vom einseitigen Medienkonsum verstellten Blick öffnen hätte sollen. Hat es aber fatalerweise nicht, weil, wie erwähnt, viele offenbar nicht den Primärtext kennen, sondern eben den Sekundärtexten vertrauen, obwohl er, später, 2008, in Die morawische Nacht passend zum politischen Anlass der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, noch einmal Bezug nimmt, diesmal als Abschied von seiner "Idee oder dem Hirngespinst von einem zusammenhängenden großen Land auf dem Balkan, in einem anderen Europa."

Nicht "für" die Serben, sondern "mit“ ihnen. Der Unterschied wurde kaum wahrgenommen.

Viel schlimmer noch, es uferte bisweilen - immer wenn Peter Handke in irgend einer Art und Weise geehrt wurde - zunehmend aus. Die Erregungswellen treten aus den Ufern der digitalen Meinungsmacher, die ohne eigene Meinung irgendeinen Mist wiedergeben. Unreflektiert und mit boshaftem Neid. Diejenigen, die sich nicht die Mühe machen, seine Bücher zu lesen, oder sorgfältig zu recherchieren, sei an dieser Stelle gesagt, dass Peter Handke niemals das Massaker von Srebrenica relativierte oder gar leugnete, im Gegenteil, er bezeichnete es (mehrfach!) "als das schlimmste Verbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg". Peter Handke trat den Versuch an, die Balkankriege in einen komplexeren Zusammenhang zu bringen. Er hat auch nicht Partei für Milošević ergriffen, und, im Gegensatz zum Literaturnobelpreisträger Harold Pinter, auch keine Petition für Milošević unterzeichnet. Seine Grabrede war eine Suche, eine Frage: "Die Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Jugoslawien, Serbien. Die Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Slobodan Milošević. Die sogenannte Welt weiß die Wahrheit. Deswegen ist die sogenannte Welt heute abwe­send, und nicht bloß heute, und nicht bloß hier. Die sogenann­te Welt ist nicht die Welt. Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ich weiß die Wahrheit nicht. Aber ich schaue. Ich höre. Ich fühle. Ich er­innere mich. Ich frage."

Die unsagbare Dummheit

Über Die morawische Nacht hieß es in unserer Buchkritik: "Er hat es satt. Satt, sich auf den ideen- und menschentötenden Zeitgeist einzulassen, auf die stromlinienförmige Generalmeinung aus veröffentlichten Beiträgen und medialem Quatsch. Einzulassen auf die unsagbare Dummheit von karrieregeilen Politikern und quotenlüsterner Journaille, die ihm einstmals sogar brachial andichtete, er sei ein Verteidiger von Mördern und Despoten, die ihm einen Heine Preis zuerkannten, um ihn denselben gleich wieder in Abrede zu stellen, kurz, die in der Zurschaustellung der eigenen Unreflektiertheit sich des Dichters zu bemächtigen suchten, um ihn klein zu kriegen. Seine konsequente Verweigerung seit damals, sich in den öffentlichen Disput einzubringen, ist nur allzu verständlich." 2006 verzichtete er auf den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf (Handke lebte dort 1966-1968). Die Autorin Carolin Emcke bezeichnete seine winterliche Reise als "unwürdig für diese literarische Auszeichnung".

"Er ist der König, Handke gehört zu den Visionären."

Andere (wie z.B. Claus Peymann) verteidigten ihn. Peymann schrieb über Handke in Die Arbeit des Zuschauers. Peter Handke und das Theater, herausgegeben von Klaus Kastberger und Katharina Pektor (Jung & Jung Verlag), dass der Theaterrevolutionär der Sechzigerjahre ein nachdenklicher Natursucher wurde, "ein heiterer und zugleich schwermütiger Einzelgänger, Wanderer und Mystiker." Alle seine Stücke waren gewaltige Experimente. Die Genauigkeit seiner Beobachtung ist liebend und nicht von Sentimentalität geprägt. Peymann weiter: "Es könnte sein, dass das Belehrende von Brecht ihn nervt, obwohl auch er selbst manchmal als 'Weltverbesserer' auftritt. Handke hat Tschechow geliebt, Horváth war einer seiner Götter." Als Regisseur hoffte Peymann oft auf Verkürzungen seiner Stücke, "stattdessen kam immer noch etwas Neues dazu." Die Meinung des Autors Peter Handke habe ihn geleitet, so Peymann, und: "Er ist der König, Handke gehört zu den Visionären. Sie sind die 'Schamanen' von heute. Sie erahnen das noch nicht Sichtbare." Die Freude war dementsprechend groß, als Claus Peymann erfuhr, dass Peter Handke den Literaturnobelpreis erhält: "Es war die schönste Nachricht des Jahres für mich, dass er den Nobelpreis bekommt". Ähnlich liest sich auch die Reaktion von der Literaturnobelpreisträgerin (2004) Elfriede Jelinek: "Großartig! Er wäre auf jeden Fall schon vor mir dran gewesen. Es war höchste Zeit und geht an jemanden, auf den sie in Österreich endlich stolz sein werden". Autorin Julya Rabinowich jubelte wiederum via Twitter: "Ich hab mich beim Handke!!!! Tweeten gefühlt wie andere beim Tor!!!! schreien". Die "leidenschaftliche" Handke-Leserin Eva Blimlinger (Die Grünen) gratulierte Peter Handke auf slowenisch - "Čestitamo zelo toplo!", und ergänzte: "[...] geachtet und umstritten, immer leise und doch laut in seiner Dichtkunst und seinen Positionen. [...]". Für Bundespräsident Alexander Van der Bellen ist die Nobelpreisvergabe an Peter Handke "ein 'geglückter' Tag - jedenfalls für die österreichische Literatur, für die Literatur überhaupt".

Versuch über den geglückten Tag

1992 veröffentlichte Peter Handke mit der Trilogie Drei Versuche. Versuch über die Müdigkeit. Versuch über die Jukebox. Versuch über den geglückten Tag drei schmale Bände, die seine große Meisterschaft als Schriftsteller zeigen. Schönheit und Kraft der Sprache geben sich hier in vertrauter Manier die Hand. Vor allem der Versuch über den geglückten Tag ist Literatur, wie sie besser nicht sein kann. Geht man ein paar weitere Jahre zurück, sitzt man im Kino bei Himmel über Berlin (1987) des Regisseurs Wim Wenders und des Drehbuchs von Peter Handke. Hier kam auch sein Poem Song of Being a Child in die Welt, bzw. am Anfang des Films auf die Leinwand: "When the child was a child, / It was the time for these questions: / Why am I me, and why not you? / Why am I here, and why not there? / When did time begin, and where does space end? / Is life under the sun not just a dream? / Is what I see and hear and smell / not just an illusion of a world before the world?" Van Morrison vertonte dieses Poem in grandioser Manier auf seinem Doppel-Album Philosophers Stone, als bedankte er sich bei Handke, was der österreichische Autor über den nordirischen Sänger z.B. in der Langsamen Heimkehr (1979) schrieb: "Seine Stimme war gleich mächtig, ohne laut werden zu müssen. Sie kam nicht aus dem Inneren des Brustkorbs, sondern bestand zunächst unabhängig von ihm, als eigener, fester, dabei nirgends zu ortender Körper... Er suchte wie ein Wahnsinniger ein ihm selber rätselhaftes Gefühl." Bereits 1969 verortete Handke den Sänger Van Morrison in seinem gemeinsam mit Wim Wenders umgesetzten Film Drei amerikanische LPs und in der oben erwähnten Kurzprosa Versuch über den geglückten Tag nahm Handke als Beispiel eines geglückten Tages ebenfalls ein Lied von Van Morrison her, nämlich das kurze Spoken-Word Faszinosum Coney Island.

Wenn es unbequem wird

Zudem begann Peter Handke Anfang der 1980er Jahre, bis dahin unbekannte fremdsprachige Autoren aus dem Englischen, Französischen, Slowenischen und schließlich aus dem Altgriechischen (Prometheus, gefesselt, Salzburger Festspiele, 1986) ins Deutsche zu übersetzen. So verhalf Peter Handke dem slowenischen Autor Florjan Lipuš einen höheren Bekanntheitsgrad. Die eingangs erwähnte Handke-Sammlung im Literaturhaus Wien verfügt übrigens "über eine der größten Sammlungen zu und über Peter Handke." Eine Reaktion seitens IG Autorinnen Autoren zur Literaturnobelpreis-Bekanntgabe an Peter Handke ließ freilich auch nicht lange auf sich warten: "Wir gratulieren Peter Handke zum Literaturnobelpreis, den er für seine nie irgendwelchen Moden oder irgendwelchen Anpassungserfordernissen unterworfene einzigartige Schreibhaltung erhalten hat. Peter Handke verkörpert wie kein Zweiter die Autonomie des Schriftstellers, die auch dann gilt, wenn es unbequem wird. Peter Handke zeigt, man kann sich mit dem gesamten Feuilleton anlegen (sein Serbien-Engagement) und sich nicht den Marktgesetzmäßigkeiten unterwerfen (seine Ablehnung an der Teilnahme beim Deutschen Buchpreis) und kann trotzdem oder gerade deshalb als Schriftsteller bestehen. Mit dem Literaturnobelpreis an Peter Handke und zuvor an Elfriede Jelinek ist endgültig dokumentiert, dass es eine neuere österreichische Literatur von größter Bedeutung und Geltung gibt." Lest Handke! //


Podcast "Peter Handke und der Literaturnobelpreis"

Text: Manfred Horak
Foto: Peter Stojanovic (GNU Free Documentation License)