mit den Schlagworten:

tiziano_scarpaTiziano Scarpas kurzer Roman "Stabat Mater" gewann in Italien den wichtigsten Literaturpreis, den Premio Strega und wirft die Frage nach dem Warum auf. Die Geschichte basiert auf dem wahren Fakt, dass Antonio Vivaldi in einem venezianischen Waisenhaus als Musiklehrer unterrichtete und komponierte. Der Autor verflocht diese historische Begebenheit mit der Erzählung über ein Waisenmädchen, welches ihre innere Leere mit ihrem Violinspiel bekämpft. Ein sprachliches Meisterwerk mit wenig Aussage.

 

Als würde sie aus dem Nichts kommen, scheint es dem 15 jährigen Waisenmädchen Cecialia, die im Ospedale della Pietà im Venedig des 18. Jahrhunderts aufwächst. Es ist dunkel in der Welt von Cecilia, doch sie bewegt sich darin sehr gewandt. Wenn sie nachts nicht schlafen kann, streunt sie durch die stillen, unbeleuchteten Gänge des Waisenhauses und schreibt Briefe an die unbekannte Mutter. Die Stimmung in diesen Briefen reicht von verzweifelt fragend über hoffnungslos bis hin zu zornig, hassend. Ganz im Stil des 18. Jahrhunderts schwingen Scarpas Formulierungen zwischen pathetisch, schwülstig und überzogen, wenn er mit diversen Metaphern die Dunkelheit Cecilias Innerstem zu beschreiben versucht. Einsam und verlassen vermag ihr selbst ihr ständiger Begleiter - das Schlangenhaupt, der Tod - nicht zu helfen, sich selbst zu finden. Viel zu sehr ist das Mädchen gefangen in dem Kampf mit sich selbst, ob sie die Mutter liebt oder hasst, um sich im gleichen Zug schuldig dafür zu fühlen. Die Abwesenheit ist omnipräsent, Cecilia "existiert nicht", weil sie ohne Bezug auf dieser Welt lebt.

Einzig mit ihrem Violinspiel schafft das Mädchen es ihrem Gefühl Ausdruck zu verleihen und verfügt dabei über ein ausgeprägtes Talent, welches sie sogar den Schwalbenflug nachahmen lässt. Erst mit dem neuen Musiklehrer Don Antonio (Vivaldi) lernt sie eine neue Sichtweise auf das Leben kennen. Durch die unkonventionellen Partituren die er sie spielen lässt, werden völlig unbekannte Emotionen in Cecilia frei gesetzt, wogegen sich das Mächen anfangs noch zu wehren versucht. Don Antonio scheint sie als Einziger zu sehen und ihren Konflikt zu verstehen, wenn er ihr sagt: "Wir dürfen nicht zulassen, dass die Dinge nur in uns selbst geschehen". Dennoch kann Cecilia sich nicht mitteilen, fühlt sich schlecht und fürchtet undankbar zu sein, weil sie das Leben welches ihr die Nonnen geschenkt haben, nicht würdigt. Aber die vorgefertigte Maske, die ihr die Schwestern aufgesetzt haben, will sie auch nicht sein.

Bei den seltenen Ausgängen in die Öffentlichkeit müssen die Waisenkinder Masken tragen. So wie die Gedanken im Buch sind auch die Mädchen "reiner Klang". Scarpa gelingt es eine perfekte Harmonie zwischen Sprache und Handlung herzustellen, weil beides in diesem Werk nicht wirklich greifbar ist. Cecilia bäumt sich immer wieder auf, wird laut wenn sie sich über die Mutter erzürnt um im nächsten Moment ganz leise zu werden und sich zurückzuziehen, wenn sie sich schuldig fühlt. Die Höhen und Tiefen des Buches sind aufgezogen wie ein virtuoses Musikstück, welches man nicht sehen, sondern nur hören und fühlen kann. Ebenso "sieht" man dieses graue, gesichtslose Mädchen nur durch ihre Gedanken. Cecilia schreibt auf benutzten Notenblättern, eine Metapher auch für die Sprache dieses Buches, welche der Musik folgt. Der Autor kreiert Rhythmus (der selbst in der Übersetzung nicht verloren geht) und wunderschöne, zutiefst traurige Formulierungen über die Einsamkeit, das Nichts und die Selbstauflösung, wie "Aber sind es denn eigentlich Briefe? Mir kommen sie eher vor wie ausgebreitete Arme, am Fenster stehend auf einen leeren Innenhof hinaus, wie Schläge und Fausthiebe, blindlings verteilt, ins Leere, in die Einsamkeit." Erst die Schlachtung des Lammes mit ihren eigenen Händen bringt Cecilia einen wichtigen Schritt weiter. Diese beschriebene Wiedergeburt befreit sie von all ihren verzweifelten Gedanken und ermöglicht ihr nach draußen zu schreiten. Sie tritt hinaus in die wirkliche Welt und beginnt zu leben.

Die Frage nach dem Warum erkärt sich durch die vom Autor geschaffene geniale Verbindung von den sprachlich produzierten Klängen, die sich an Vivaldis Musik orientieren. Als gelungen betracht werden kann demnach die Hommage an den italienischen Komponisten, als einfach und platt muss die Entwicklung Cecilias bezeichnet werden, wenn der letzte Satz des Buches lautet: "Ich habe mich mir selbst zurückgegeben, ich selbst bin es, die nun ihrem Schicksal entgegengeht." (Daniela Unfried)

tiziano-scarpa-stabat-materBuch-Tipp:
Tiziano Scarpa: Stabat Mater
Bewertung: @@@@
Verlag: Wagenbach (2009)
Gebundene Ausgabe: 144 Seiten
ISBN-10: 3803132258
ISBN-13: 978-3803132253