lemmings-zornLärm ist allgegenwärtig, das muss auch der Lemming in diesem seinem vierten Fall erkennen. Die Figuren leiden unter übertönenden und einnehmenden Geräuschen, rächen sich an vermeintlichen Bösewichten und morden aus Wahnsinn. "Lemmings Zorn" von Stefan Slupetzky ist eine bedrückend unterhaltsame Gesellschaftsstudie in den Tiefen des Wienerischen über die Grenzen des Ertragbaren, über Gerechtigkeit und Vergeltung und über das Glück, das ein Vogerl ist.

Dass dem tollpatschigen Lemming nie etwas auf Anhieb gelingt, soll für eingefleischte Fans des ehemaligen Kriminesers keine Überraschung sein. So nimmt man auch die katastrophal chaotische Geburt seines Sohnes zu Beginn des Buches mit einem milden Lächeln in Kauf. Wenn jedoch im Laufe der Geschichte alles schief läuft, was nur schief laufen kann, dann strapaziert dies nicht nur die Neugierde des Lesers, sondern auch die Geduld. Vielleicht aber beabsichtigt der Autor mit dieser langsamen und teilweise zähen Spurensuche bloß den Leser in eine vergleichbare Situation wie die seines Protagonisten zu versetzen.

Wann reißt Menschen, die unter ständiger, fremd beeinflusster Belastung stehen, der Geduldsfaden? Konkret in diesem Buch: Wie lange kann man konsequentem Lärm ausgesetzt sein ohne sich zu beschweren, ohne körperliche bzw. psychische Schäden davon zu tragen, ohne schlichtweg durchzudrehen? Die Nebenfiguren in Slupetzkys Krimi scheinen offensichtlich aus härterem Material als der Lemming selbst geschnitzt zu sein, leben sie doch jahrein jahraus unter permanentem Geräuschemüll. Wenn ab dem Weihnachtstag für Leopold Wallisch sein trautes Familienglück durch Baulärm, einen unerwarteten Mord und grauen Verfolgern ins Wanken gerät, dauert es nicht länger als vier Tage bis sein ganzer aufgestauter Zorn aus ihm heraus bricht.

Alles beginnt mit Angela Lehner, die das Paar in Not rettet und Klara bei der Geburt ihres Sohnes Benjamin tatkräftig zur Seite steht. Nicht bloß namentlich bleibt sie Engel, denn Angela, die aus heiterem Himmel zur Hilfe kam, wünscht sich als Gegenleistung nichts mehr, als den Kleinen regelmäßig sehen zu dürfen. In wenigen Monaten wird sie somit Teil der Wallisch-Breitner Familie und lässt den Lemming und Klara vor vielen Fragen zurück, als sie am Weihnachtsabend tot aufgefunden wird. Trotzdem der neue Oberinspektor Polivka begründeterweise auf Selbstmord schließt, glaubt der Lemming nicht daran und begibt sich selbst auf Ermittlungstour, auf welcher er wie immer einige Weinräusche durchlebt, im Dezember durch die kalten, grauen und nassen Straßen Wiens spaziert und dabei auf ominöse Gestalten trifft, die nicht sofort Licht ins Dunkel bringen.

Erst das Treffen mit der ALF (AntiLärmFraktion) bringt sowohl für Protagonist als auch Leser mehr Klarheit über die Zusammenhänge der zahlreichen ihm begegnenden Figuren. Der Name ist Programm, denn was die Gruppe vereint, ist das Leiden unter dem Lärm, dessen Auswirkungen leider auch der Lemming (ironischerweise gerade in der beschaulichsten Zeit des Jahres) kennen und fühlen lernen muss. Dass einer unter ihnen vom Lärm den Tremor bekam und seinen Wein nur noch mithilfe eines Strohhalmes schlürfen kann, ist im Vergleich zu Lemmings unkontrollierter Wut glimpflich. Die altbekannte Gutmütigkeit des Leopold Wallisch mutiert zum Zorn als dem geliebten Familienmitglied Castro tödliches Leid zugefügt wird. Als aufopfernder Vater bereits von Natur aus fürsorglicher und besorgter, würde der Lemming sogar beinahe einen Mord begehen, um das Wohl seiner Familie zu beschützen. Dass jeder solch grenzüberschreitende Belastungen anders handhabt, zeigt der Autor in diesem Buch unter anderem durch Kontrollverlust, Selbstmord und Rachepläne.

Die Geschichte der Familie Lehner dient dafür quasi als Spiegelbild, scheint sie doch anfangs (von einem anonymen zweiten Erzähler) wie eine Liebesgeschichte aus dem Märchenbuch. Alles läuft gut bis die miese "Ratte" in Form ihres Vermieters in ihr Leben tritt und alles zerstört... Durch die dreijährigen Bauarbeiten verursachte die geldgierige Ratte seinen Mietern nicht nur Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite, sondern auch chronischen Schlafmangel. In Folge vernachlässigt Angela ungewollt ihre Aufsichtspflicht, was auf tragische Weise zu dem Tod ihres Sohnes führt und das viel zu kurze Glück der Lehners vernichtet. Dafür möchte Rachangela Vergeltung und so soll der beschuldigte Vermieter (sowie sämtliche anderen kaltblütigen Lärmstifter) mit ihren eigenen Mitteln bestraft werden: durch Lärmbeschallung in einem von Angela eingerichteten Verlies.

Die dialektal hochsprachliche Mischung Slupetzkys Stil lockert die streckenweise etwas langgezogene Aufklärung dieser mysteriösen Geschichte auf, denn all dies hat nur peripher mit Angelas Tod zu tun... Der Lemming geht behäbiger als in seinen letzten Fällen vor, doch der flotte, belustigende Schreibstil bleibt bestehen, die Seiten sind voll scharfer Ironie. Einzig, dass Dinge zu oft metaphorisch vermenschlicht werden, wie etwa die Sonne, die als die wiedergekehrte verlorene Tochter beschrieben wird, lässt die bereits vierte Runde Slupetzkys Krimireihe erkennen...

Dramatische Geschichten gibt es im vierten Fall des Lemming viele und alle zeugen sie von der Vergänglichkeit des Glücks, welches eigentlich nur ein kurzzeitiger Zustand ist, den es in jedem Moment seines Daseins zu genießen gilt. (Daniela Unfried)

stefan-slupetzky-lemmings-zBuch-Tipp:
Stefan Slupetzky - Lemmings Zorn
Bewertung: @@@@
Verlag: Rowohlt (2009)