Ernst Jandl war einer der ganz Großen der deutschsprachigen Dichtung. Sein konsequenter Weg in die experimentelle Poesie, sein Mut zu Abgrund und Witz gleichermaßen, seine Fähigkeit, Worte zu audiovisueller Form zu abstrahieren und sie dabei sofort und überraschend zu neuen Bedeutungen zu führen, all das sichert ihm zurecht einen Ehrenplatz in der österreichischen Gegenwartsdichtung.
Hohe Zeit für Liebeslyrik In einer Zeit, die ausufernde Geschwätzigkeit und Belangloses in unerträglichen Talkshows und Events zunehmend zur bevorzugten Kultform stilisiert, hat er bis zu seinem Tod im Jahr 2000 konsequent für die Bedeutung der knappen, präzisen und hoch verdichteten Lyrik gekämpft. Für die rhythmische Sprache, für wunderliche Klänge und in verblüffenden Bildern, wortmächtig und verletzlich zugleich. Immer emotional und sehr oft äußerst humorvoll. Und wer je das Glück hatte, Ernst Jandl persönlich bei der Interpretation seiner Gedichte zu erleben, weiß, mit wie viel Herz und Bauch er sich lustvoll in diese minutiöse Arbeit begeben hat. Alle Gedichte dieses Buchs sind bereits in der zehnbändigen Werksausgabe (1997) und in "Letzte Gedichte" (2001) erschienen. Und doch lohnt es sich, diese hier chronologisch und thematisch sortierten, in knappe Zeilen gegossenen Gefühle nochmals und für sich neu zu entdecken. Jandl über die Liebe Er hatte viel zum Thema Liebe zu sagen, er schrieb sich viele verschiedene Zugänge zur Liebe. Zugänge, die sich von 1952 bis zu seinem Tod spinnen. Und sie reichen damit von den heftigen Schwärmereien eines jungen Mannes bis zu späten Einsichten, was doch alles im Alter nicht mehr möglich und vielleicht bereits längst vorüber sei. Da sucht er atemlos nach Intimität ("jalousie"), findet visuell geniale Formen, auseinander zu gehen ("abschied") oder lässt Lust und Freude in melodiös verspielter Form freien Lauf ("chanson", "calypso", oder "augenspiel"). Immer wieder tauchen sehnsüchtige Bilder nach der Geliebten auf ("viele züge fahren nach paris, während"), genauso, wie ausgesprochen lustige und doch immer berührende, konkrete Formen irritieren, unterhalten und berühren ("schmerz durch reibung", "portrait eines mädchens", "der kuss"). liegen bei dir Und mit fortschreitendem Alter stellte sich Ernst Jandl schonungslos dem Verfall, der Frage, wie lange Liebe und Begehren dauern können oder wie körperliche Liebe mühsam und beschwerlich wird. Und schließlich kommen auch die zentralen Themen seines Spätwerks, nämlich Krankheit, Siechtum, Verfall und Tod - immer wieder im Spiegel des Suchens und Begehrens. Doch in Jandls vielleicht schönstem Liebesgedicht, "liegen bei dir", zeigt er die innige Kraft der Zuwendung und wie sie alles überschreitet - Grenzen, wie die zwischen einsamen Menschen, die von getrennten Räumen und die von suchenden Wesenszuständen. Wo die Andere den Einen zu viel mehr öffnet, als er je allein fassen konnte, ohne sie. All diese Größe, all diese bestechende Transzendenz, kondensiert in sechs bescheidene, dennoch große Zeilen. Tief berührend, tief bewegend, genial. "Liebesgedichte" von Ernst Jandl fordert viel Zeit ein. Zeit, sich Zeit für Lyrik zu nehmen. Zeit, sich nicht fortwährend mit belanglosem Geschwafel berieseln zu lassen. Zeit, diese Verse, diese Strophen, dieses Buch zu lesen. Und viel Zeit zu lieben. (Tristan Jorde) Buch-Tipp: |
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