Mit "Die Gunst der Stunde, 1855" veröffentlicht Patrik Ourednik ein originelles, kluges und vor allem komisches Buch. Im Zentrum stehen die Themen Freiheit, "wahrer" Sozialismus und die Rolle der Frau. Von Bernhard Pöckl.
"Könnte ich nur mein Leben neu beginnen, ohne die Erinnerung an mein vergangenes zu verlieren." Inspiriert von den Schriften eines Genueser Tierarztes und Wunderheilers brechen 1855 Menschen aus ganz Europa auf, um in Brasilien eine Utopie Wirklichkeit werden zu lassen: die freie Kolonie Fraternitas, die auf den Idealen von Brüderlichkeit und Menschenliebe beruhen soll. Doch bereits zu Beginn der Überfahrt von Le Havre nach Brasilien treten die ersten Konflikte zutage, denn mit an Bord sind nicht nur Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern auch Neid, Gier und Vorurteile. Immerhin weiß niemand, wie man es in der Kolonie dann halten wird mit Besitztümern, Pflichten und der freien Liebe. Nationalismus und Sprachbarrieren führen zur absehbaren Katastrophe: als der Visionär schließlich in Brasilien ankommt, findet er nur noch Ruinen vor – die Kolonie ist längst zugrunde gegangen. Der erste Teil des Buches besteht aus einem Brief, den der Veterinär an seine ehemalige Geliebte schreibt, der jedoch in Wirklichkeit eine Lebensbeichte ist. Es ist ein gescheiterter Revolutionär, der hier pathetisch über sein Leben und die Gesellschaft philosophiert. Es geht um Freiheit, den "wahren" Sozialismus und die Rolle der Frau, jedoch liegt ein Grundton der Resignation über all diesen Überlegungen, wenn der Verfasser meint: "Nicht einen Deut hat die Menschheit vermocht, aus der Geschichte Lehren zu ziehen." "Er sagte, dass er sich keine andere Religion wünsche, als Brüderlichkeit und freie Liebe." In der verlassenen Kolonie findet der Ich-Erzähler das Tagebuch eines Auswanderers, Bruno, der mit einer größeren Gruppe von Italienern am Unternehmen beteiligt war. Dieses Tagebuch bildet nun den zweiten Teil von Patrik Ouředníks Roman "Die Gunst der Stunde, 1855" und erzählt von der Reise nach Brasilien und den ersten Monaten in der Kolonie. Die Sprache ist einfach, damit aber auch entlarvend: die hochgestochenen Gesellschaftstheorien werden von der Realität eingeholt, zerbrechen an den Menschen. Die Einträge berichten von den sinnlosen Versammlungen, die bereits an Bord des Schiffes abgehalten werden und die den Alltag der Menschen regeln sollen, von den unüberbrückbaren Sprachbarrieren, den aufkeimenden Nationalismen aber auch von der Hoffnung aller, in Freiheit miteinander leben zu können. Doch bald schreibt Bruno: "Aber was ist das, die Freiheit des Menschen? Ich verstehe das immer noch nicht gut genug. Oder wie man zu dieser Freiheit gelangt." In der Kolonie selbst wird das Leben bald zur Hölle – die freie Liebe scheitert am Frauenmangel; Alkoholismus und Egoismus machen sich breit. "Nahezu alle waren betrunken." – so lautet der letzte Satz des Romans, und er illustriert das Scheitern aller Utopien. Aber trotz des tragischen Inhalts ist das Buch voller Witz, der sich vor allem aus dem Kontrast speist. Die Lücke, die zwischen Theorie und Praxis, zwischen Erwartungen und Realität klafft, lässt viel Spielraum für grotesk-komische Situationen, die vom beflissenen Bruno buchstabengetreu und oft mit Enttäuschung protokolliert werden: "Ich glaube, dass die freie Liebe rein gar nichts bringt, wenn man sie nicht praktiziert." Beinahe beiläufig entlarvt der in Paris lebende Tscheche Ouředník die hochtrabenden Reden der Kolonisten als hohle Phrasen, spielt mit Sprache und Stil und verarbeitet ein gutes Stück europäischer Geistesgeschichte in seinem kompakten Roman. Ein originelles, kluges und vor allem komisches Buch. (Bernhard Pöckl) Buch-Tipp:@@@@ Residenz Verlag (2007) Roman, Gebunden, 169 Seiten Aus dem Tschechischen von Michael Stavarič ISBN 9783701714711 |
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