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cozarinsky_flatterhaft

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Klaus Wagenbach Verlag, Berlin (2007)
Roman
ISBN 9783803132109
Gebunden, 124 Seiten
Aus dem argentinischen Spanisch von Sabine Giersberg

Es ist gefährlich, Geschichten zu erfinden

Ein junger Journalist schreibt seine Abschlussarbeit über das jüdische Theater von Buenos Aires und trifft dabei den alten Samuel Warschauer, früher Musiker in diversen Etablissements. Zwar kann er nicht mehr viel mitteilen – er stirbt nach dem ersten Treffen, aber in seinem Nachlass findet der wissbegierige Student einen Karton mit Briefen und alten Theaterprogrammen. Diese bringen ihn auf die Spur des jiddischen Stücks "Der moldawische Zuhälter", verfasst von einem gewissen Teófilo Auerbach. Es erzählt von osteuropäischen Mädchen, die mit falschen Versprechungen nach Argentinien gelockt werden und in den Händen eines Zuhälterrings landen. Aber handelt es sich um eine wahre Begebenheit aus dem Leben von Auerbach oder von Samuel Warschauer? So verliert sich der Journalist immer tiefer in der vergangenen Welt von Theater, Tango und Prostitution, ja er imaginiert die Schicksale und Geschichten herbei: "Die Linien und Pfeile, die in meinem Heft Daten und Namen dieser Figuren und der Städte verbanden, zwischen denen sie sich bewegt hatten, legten mir alternative Handlungen nahe."

Die Geschichte kommt mir phantastisch, wenn nicht gar erfunden vor

Schon wie in Cozarinskys Erzählband Die Braut aus Odessa sind es die Rätsel der Vergangenheit, die die Protagonisten in ihren Bann ziehen und die sie mit Hilfe von alten Dokumenten, Briefen und vagen Erinnerungen zu lösen versuchen. Die Rekonstruktion der Lebens- und Leidensgeschichten wird zu einer Neuschöpfung, zu einer Kreation im Kopf des Studenten und damit auch des Lesers. Mit kleinen, beinahe filmisch anmutenden Szenen illustriert Cozarinsky die realen und erfundenen Schicksale seiner Figuren und so löst sich die Grenze zwischen Fiktion und Realität immer mehr auf. Die Lebensgeschichten der Emigranten werden variiert und wiederholen sich im Laufe der Generationen, denn "[…] Geschichten werden nicht erfunden, sie werden vererbt."
Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich… ist jedoch auch eine Geschichte über das Vergessen, über eine untergegangene Welt. Die Zeit der jüdischen Immigranten mit ihren Theatern, Revues und Berühmtheiten existiert nur noch in der Erinnerung einiger weniger, und wird am Ende vom Regen, der im Buch häufig fällt, symbolisch fortgewaschen.
Was der Hakenschlagende Cozarinsky, der sich nicht umsonst mit Nabokov und Borges beschäftigt, seinen Personen auf den Leib schreibt, ist die Sehnsucht nach Heimat, Identität und Liebe. Dies sind auch die großen Themen dieses melancholischen Emigrantenromans, der sich besonders durch seine elegante und trotzdem einfache Sprache auszeichnet.
Edgardo Cozarinsky, selbst das Kind russischer Immigranten, verließ 1973 Buenos Aires und lebt seither in Paris, wo er mit seinen Filmen, seinen Erzählungen und mit seinem ersten Roman „aus Texten entliehene Erinnerungen“ zum Leben erweckt. (Bernhard Pöckl)

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Buch-Kritik Edgardo Cozarinsky "Die Braut aus Odessa"