Der Roman "Zwei Leben und ein Tag" von Anna Mitgutsch besteht großteils aus Briefen, die Edith an ihren geschiedenen Mann Leonard schreibt, aber nicht abschickt.
Sie will ergründen, was schief gelaufen ist, als Partner in ihrer Ehe, in ihrer beider Karrieren als Literaturwissenschafter und als Eltern des gemeinsamen Sohnes Gabriel, der seiner Umwelt, vermutlich nach einer falsch behandelten Gehirnhautentzündung als Kleinkind im Fernen Osten, als geistig zurückgeblieben gilt. Gabriels Welt - der Tag im Titel - muss aus einem sehr engen Raster vorhersehbarer Dinge und Ereignisse bestehen, soll sich die prinzipielle Undurchschaubarkeit vor allem von Menschen nicht in maßlosen Wut- und Panikanfällen des ewigen Sündenbocks Gabriel entladen. Nach dem Tod der Mutter ungeschützt, endet Gabriel in falscher Gesellschaft erschlagen in einem Strassengraben.
Scheitern am Maßstab
Gabriel liebte Koordinatensysteme, Stern- und Landkarten, was Edith einst zur Anlage einer eigenen Sammlung seltener Karten inspirierte. Sie saß eher befremdet erst in Südkorea, dann in Malaysia, minder angesehen als bloße Gattin ihres Mannes, der dort Bibliothekssysteme aufbaute. Eine missgünstige Empfehlung seines verehrten, einstigen Lehrers hatte Leonard eine Karriere in seiner Heimat USA verunmöglicht. Leonard flüchtet sich, letztlich erfolglos, in eine zweite Ehe mit einer viel jüngeren Ungarin nach Budapest. Edith versucht, von einer Freundin beflügelt, ein Antiquariat für wertvolle Karten aufzubauen. Auch dieses Vorhaben endet in Betrug und Enttäuschung. Leonards Professor hatte über Herman Melville, den Autor des Meisterwerks "Moby Dick", geforscht. Edith und Leonard liebten diesen Autor und wollten in jungen Jahren lange gemeinsam dessen Biographie schreiben. Nun verknüpft Anna Mitgutsch in Ediths Briefen lange Passagen aus einer möglichen Biographie Melvilles mit deren Leben.
Der Spott literarischer Kleingeister
Melville (1819-1891) fuhr in jungen Jahren zur See und immer nur wollte die klerikal-bornierte, zeitgenössische amerikanische Gesellschaft Abenteuergeschichten von Matrosen und Südseeschönheiten von ihm hören, während Melville auf ein Unbedingtes, Wahres und Schönes der Literatur drängte. Er machte sich zum Spott der literarischen Kleingeister seiner Zeit und zwang seine Familie, in materieller Armut und seelischer Düsternis zu leben. Nach gängigen Maßstäben ist hier auf allen Ebenen von einem großen Scheitern die Rede, von hoch fliegenden Plänen der Jugend - von Melville ebenso wie von Edith - von falschen Annahmen, ungünstigen Umständen und insbesondere missgünstigen Mitmenschen. Als Leser sollte man es sich in dieser wortgewaltigen und technisch souveränen Prosa nicht zu leicht machen. Vielleicht stutzt nur etwas wie Realität zu hochfliegende Annahmen zurecht. Freilich ist es auch ein wenig mühsam, was da alles "vom Ende her betrachtet" "versengt" und "zum Erliegen kommt". Trotzdem gerät man ins Grübeln über eigene Um- und Auswege. So soll es sein. (Monika Gentner)
Anna Mitgutsch - Zwei Leben und ein Tag
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Luchterhand (2007)
Roman
349 Seiten
ISBN-10: 3630872565
ISBN-13: 978-3630872568