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guerilla-dinnerGehen Sie manchmal zum Essen in eine fremde Wohnung und nicht in ein Restaurant? Zu einem Menschen, von dem sie weder Stimme, noch Gesicht, ja nicht einmal den Namen kennen? Wenn die Antwort Nein lautet, so sind Sie noch nicht erfasst worden vom neuen sozio-kulinarischen Trend, der die Großstädte dieser Welt unsicher macht: Guerilla Dining.


Ein wenig muss ich schon suchen nach der Adresse, die auf meinem Zettel steht. Ich bin hier schließlich noch nie gewesen. Freundlich bittet mich die Stimme aus der Sprechanlage in den obersten Stock. Da ich ein wenig früher dran bin, bin ich noch der einzige Gast. Am Herd stehen Töpfe und Pfannen, die beiden Damen, die heute Abend eingeladen haben gleich daneben, beschäftigt mit den letzten Vorbereitungen. Sie sind ein wenig aufgeregt, es ist nämlich nicht nur guerilla-dinner02meine Premiere als Guerilla-Gast, auch ihre als Köchinnen. Wie sie erzählen, nimmt sie das Projekt schon seit ein paar Tagen in Beschlag. Es braucht Zeit, nicht nur für das Kochen, auch für das Aufpolieren der Räumlichkeiten. Ilse, in deren Wohnung gespeist wird, meint verschmitzt: "Bei mir sieht es nicht immer so aus." Aber auch die Zubereitung des mehrgängigen Menüs selbst will gut geplant sein: Es steht in der heimischen Küche nicht der Platz zur Verfügung wie im Restaurant, nicht die Ausstattung, nicht das Geschirr. Jede Herdplatte ist begehrt, es muss ein wenig vorgekocht werden, auch damit während den Gängen Zeit bleibt, um Teller und Besteck zu spülen.

Keine Gefahr für professionelle Gastronomie

Was bringt einen dazu, fremde Leute bekochen zu wollen? Ilse und Lina waren fasziniert von dieser Idee, seit sie von ihr hörten. "In New York ist das schon sehr weit verbreitet", ergänzen sie. Für mich schließt eines das andere aus, Guerilla und Mainstream passen nicht zueinander. Überhaupt kann man sich mit dem Begriff schwer tun. Der Ursprung, der Guerilla-Krieg, löst in mir Bilder von Aggressivität aus, weniger von Entspannung bei einem gemütlichen Essen. Aber die guerilla-dinner03kochbegeisterten Frauen haben sich den Namen ja nicht aus ausgedacht, sie beugen sich vielmehr einer Konvention. Das Wort soll ja auch nur beschreiben, dass man sich abseits von gängigen Regeln bewegt, siehe auch die anderen Guerilla-Komposita mit Marketing oder Gardening. Dabei schwingt zumindest in diesem Fall auch keine Illegalität mit. Die Köche des heutigen Abends haben keine Preise. Sie erbitten eine Spende, einen Unkostenbeitrag, es gibt kein "schwarzes Geschäft". An Verdienen ist bei dem Aufwand nicht zu denken. Eine Gefährdung der klassischen Gastronomie wäre ebenfalls an den Haaren herbeigezogen. Wer etwas Bestimmtes will, kocht selbst oder geht ins Wirtshaus, wo er weiß, was er bekommt. Wer bei einem Essen ein sehr privates Gespräch führen will, geht auch ins Restaurant. Das Essen beim Guerilla Dinner hat eine ganz andere Qualität, eine besondere soziale Komponente. "Wir wollen eine familiäre Atmosphäre", erklärt Ilse, "in privatem Umfeld neue Leute kennen lernen und kochen. Da ist ein Essen ideal." Familie ist dabei wohl der ausschlaggebende Punkt. Nicht dass sich bei einer solchen Veranstaltung nur einsame Menschen treffen, aber in der Großstadt scheint das Essen im größeren Kreis doch noch seltener als am Land. Die archaische Vorstellung von Höhle und Lagerfeuer spielt vermutlich eine Rolle, wem das zu weit weg ist, der erinnert sich vielleicht an die große Wohnküche bei der Großmutter.

Essen, reden, und übers Essen reden

Wie die anderen Gäste eintrudeln, steigt die Anspannung. Stimmt die Chemie? Gibt es mehr als verlegenen Smalltalk? Wir sind heute sechs Gäste plus die zwei Gastgeber, keine zu große Runde also, dafür vielfältig: Neben Österreicherinnen gibt guerilla-dinner04es mit Köchin Lina eine Italienerin, einen Türken, einen Deutschen und einen Briten. Es bräuchte den Sekt gar nicht, der zur Begrüßung gereicht wird, denn man sieht sich zum ersten Mal und weiß nichts, Redeanlass gibt es also genug. Wie hast du vom Dinner erfahren? Was machst du? Wo kommst du her? Und wenn das Essen erst einmal am Tisch steht, redet man halt darüber; oder wie man zuhause isst, wo auch immer das ist. Dies alles sind aber nur hypothetische Überlegungen, denn irgendwie rückt bei uns das Essen schnell aus dem Fokus. Jeder neu aufgetischte Gang erinnert uns wieder, warum wir "eigentlich" hier sind. Vielleicht ist unsere Zusammensetzung besonders gesellig oder aber genau das ist der Zauber des Guerilla Dinings: Jegliche  noch verbliebene Zurückhaltung ist allerspätestens mit Dessert, das wir als einzigen Gang mit den Gastgeberinnen gemeinsam einnehmen auf ein gesundes Minimalmaß zurückgegangen. Zwar kenne ich schon nicht mehr von allen den Namen, das hat aber einer humorigen Konversation bekanntlich noch nie geschadet. Im Gegenteil: Der eine oder andere Guerillagast wächst in einer anonymen Runde eventuell gar über sich hinaus. Die Leute kennen einander nicht, warum also nicht die Chance nutzen, alten Ballast abzuwerfen und z.B.  freundlich sein, wenn einem das Etikett des Griesgrams anheftet?

Essen ist erst der Beginn der Guerillaparty

Ilse und Lina hätten sicher nichts gegen so einen positiven Wandel. Einen Tisch voller Leute ohne jegliche Verbindung wollen sie aber doch nicht haben. "Wenn es guerilla-dinner05jemandem gefallen hat, erzählt er Freunden oder Arbeitskollegen davon. Und so geht es dann weiter." Klug, denn dieses Empfehlungssystem schließt neue Typen am Tisch nicht aus, verhindert aber gleichzeitig "unberechenbare Gäste" - es bringt wohl niemand jemanden mit, für den er sich später schämen müsste. Deswegen wird es auch keine klassische, öffentliche Werbung geben. Künftig soll es monatlich ein Guerilla Dinner geben, das Menü vorher per Rundmail ausgeschrieben (bei unserer Premiere war es eine Überraschung) und die Interessenten auch auf diesem Wege gefunden werden. Vielleicht gibt es auch eine Homepage, sicher ist das noch nicht. Als ich die Runde verlasse, ist die Stimmung prächtig. Käme ich mir aufgrund der von mir verzehrten Menge nicht wie ein Dampfgarer ohne Überdruckventil vor, würde ich noch länger bleiben. Der Abend war wie eine Sitzparty ohne die üblichen Affektiertheiten, als würde man neue alte Freunde treffen, mit denen man nicht über die Grausamkeiten des Lebens diskutiert, sondern die sich mit einem nur freuen, bei gutem Essen und Trinken zusammensitzen zu dürfen.  

Das Curriculum Cenae des Abends

Ich war zu Gast bei Ilse und Lina. Lina stammt aus Apulien und gestaltete die erste Hälfte des viergängigen Menüs mit typischen Gerichten aus Ihrer Heimat. Wir begannen mit einem Aqua sale, bestehend aus Gurken, Tomaten und Fetzen selbstgebackenen Brotes in einem Sud aus Salzwasser, Öl und Kräutern. Darauf folgten Ciceri e tria, Kichererbsen mit Gemüse und Pasta. Die zweite Hälfte übernahm die Hausherrin Ilse. Sie servierte als dritten Gang ihr Coq au vin mit Süßkartoffeln, Karotten und Reis. Zum Dessert wurde Mousse au chocolat mit Orangenstückchen, Likör und Schlagobers gereicht. Den Abschluss bildete ein italienischer Myrteschnaps direkt von Linas "Mamma". Zu den Speisen gab es Weiß- und Rotwein, sowie Wasser, Mineral und Saft, zum Dessert Kaffee. (Text und Fotos: Peter Baumgarten)
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