Regisseurin Maryam Zaree stellt sich in der Doku "Born in Evin" der Suche nach den ungeklärten Ursprüngen ihres Lebens.
Eine Legende im Talmud besagt, dass ein Kind eine Kerze über dem Kopf trägt, wenn es geboren wird. Diese soll als Zeichen dafür stehen, dass es alles weiß. Im Moment der Geburt bläst ein Engel diese Kerze aus und das Kind vergisst alles. Im Laufe seines Lebens muss es sich wieder erinnern an das, was es vergessen hat.
Das ist die Erzählung, mit der die Schauspielerin und Regisseurin Maryam Zaree ihren Film aus dem Off beginnt. Danach landet sie von einem Fallschirmsprung hart am Boden und schreitet in die Weite der vor ihr liegenden Landschaft voran, den Fallschirm hinter sich schleppend.
Maryam Zaree wurde in einem Gefängnis in Teheran geboren. Im Dokumentarfilm "Born in Evin" macht sie sich auf die Suche nach den ungeklärten Ursprüngen ihres Lebens.
Evin - ein politisches Gefängnis in Teheran
Nach der Deklaration der Islamischen Republik im Iran 1979 wurden zahlreiche politische Oppositionelle von der Regierung gefasst und unter grausamen Umständen in Gefängnissen gefangen gehalten. Unter ihnen Maryams Eltern. Evin, das berüchtigte Gefängnis für politische Häftlinge in Teheran, ist der Ort, an dem Maryams Kerze bei der Geburt also ausgeblasen wurde.
Nach erfolgreicher Flucht steht ihre Mutter 1985 mit der Tochter am Hauptbahnhof in Frankfurt. Jahre später wird sie dort als grüne Politikerin eine Rede halten, weil sie die erste Bürgermeisterin mit Migrationshintergrund werden möchte.
Glaubt man den Erzählungen ihrer Mutter, so scheint es, als ob Maryam erst zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Deutschland zu leben begonnen hat. Denn über das, was davor passierte, herrscht konsequentes Schweigen.
Transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen als ungreifbares Gefühl
Eine große Unterstützung und Inspiration für Maryam in der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ist ihr Stiefvater. In seiner Arbeit als Psychologe beschäftigt er sich mit transgenerationaler Weitergabe von Erfahrungen. Als deutscher Jude liegt sein Forschungsgebiet auf dem Holocaust.
Das Gefühl, das Maryam beim Gedanken an ihre Geburt hat, ist unbeschreiblich und ungreifbar. Manche Traumata sitzen tief im Unbewusstsein fest und äußern sich in unerwarteten Situationen. Sicher ist für Maryam, dass sie die Dinge, über die nicht gesprochen wird, verstehen möchte.
Die Wahrheit ist viel unangenehmer, als man es sich vorstellen kann
Auf der Suche nach Aufklärung reist Maryam zur Tante in Frankreich, die ihr zum ersten Mal von ihrer Geburt erzählt hat. Sie besucht eine Frau, die mit ihrer Mutter im Gefängnis war, und eine Therapeutin, die sie ihre eigene Geburt mit Figuren nachstellen lässt.
Alle fragt sie, was passiert ist und alle fragen sie, warum es so wichtig sei.
Die erste Lektion: Die Wahrheit ist viel unangenehmer, als sie es sich vorstellen könnte und manches passiert aus Gründen des eigenen Schutzes.
Keine individuelle, aber eine kollektive Wahrheit
Für die Mutter Nargess Eskandari-Grünberg ist die Suche nach der Wahrheit unangenehm. Diese Tatsache und das erfolglose Vorankommen in die Vergangenheit bringt Maryam fast dazu aufzugeben. Bis sie durch das Gespräch mit der Expertin für politische Gefängnisse im Iran Chahla Chafiq eine Erkenntnis gewinnt. Sie versteht, dass ihre Geschichte Teil eines kollektiven Gedächtnisses ist. Freiheit ist universell.
Dabei geht es nicht um Verständnis, sondern um das Sprechen. Es ist nicht wichtig, Antworten zu finden, sondern Fragen zu stellen. Die individuelle Wahrheit ist irgendwo im kollektiven Gedächtnis einer ganzen Generation zu finden.
Die Geschichte von Generationen
An diesem Wendepunkt im Film wird die individuelle Vergangenheit zur Erzählung eines Kollektivs über Generationen, die die Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern in sich tragen.
Das führt Maryam zu zahlreichen Personen in Europa und auf der ganzen Welt, die ähnliches erlebt haben, wie sie selbst. Das Sprechen und das Fragenstellen hilft, die eigene Vergangenheit anzunehmen und zu verstehen.
Ein Plädoyer für das Fragenstellen
Das mutige Regiedebüt von Maryam Zaree ist eine intime Erkenntnisreise in die Geschichte von Generationen und ein Plädoyer für das Sprechen über Unaussprechliches, indem man Fragen stellt.
Es ist ein Film über kollektive Geschichtsschreibungen durch individuelle Erzählungen; die Auseinandersetzung mit einer Thematik, die nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch in Zukunft wichtig und notwendig sein wird.
Letztendlich wird man sich der eigenen Wahrheit nur nähern können, wenn man es macht, wie Maryam Zaree, die ihre Antwort gefunden hat, weil sie sagt: "Ich habe gefragt." //
Text: Julia Polzer
Fotos: Stadtkino Filmverleih
Film-Infos:
Born in Evin
Dokumentarfilm, 98 Minuten
Regie: Maryam Zaree
Kinostart: 21.2.2020 im Stadtkino im Künstlerhaus
Premiere: 19.2.2020 (Stadtkino; 20 Uhr) in Anwesenheit von Maryam Zaree
Wien Premiere präsentiert von Stadtkino Filmverleih, Golden Girls Filmproduktion & Filmservices und ORF