Mädchen haben in Afghanistan keinen Wert
Dieser 'Junge' erzählt von dem Weg seiner Reise nach Österreich, von den Schleppern, der Not und der Angst und vom Ankommen in einem fremden Land und wie man hier herausfindet, wer man nun eigentlich sein soll. Die Inszenierung beginnt im Dunklen, man sieht nicht viel, jedoch lässt sich eine Art Käfig in der Mitte des Raumes erahnen. Die Zuschauerreihen sind rund um die Bühne aufgebaut, wirken abermals wie ein Käfig. Es erklingen Stimmen in verschiedenen Sprachen, von einem Tonband abgespielt. Die Tonebene ist im ganzen weiteren Verlauf ein wichtiger Faktor der Erzählung. Töne aus dem Off werden von der Protagonistin wahrgenommen und miteinbezogen, sie arbeitet mit ihnen als würden die Stimmen menschlich mit ihr agieren.
Wenn die Fiktion zur Realität wird
Des Weiteren werden durch die Tonebene Emotionen, Gedanken und Handlungen verstärkt und unterstützt. Schauspiel, Erzählung und Ton sind ständig im Einklang. Manche Szenen wirken dadurch nahezu haarsträubend und unterstützen wiederum die Erlebnisse und die Angst, die während der Reise des 'Jungen' auf ihn zukommen. Das Spannungsgefühl der Rezipienten wird in der Inszenierung in höchstem Maße und mit Geschicklichkeit belebt. Durch das Sprechen mit den Zuschauern, wenn die Schauspielerin kurz aus ihrer Rolle fällt,wird die Fiktion einen Moment zur Realität. Die Geschichte wird dadurch aktuell, greifbar und unglaublich nah. Gänsehaut und Herzklopfen sind oftmals vorprogrammiert! Die Barrieren zwischen Rezipienten und der Darstellerin wirken teilweise wie aufgehoben,man fühlt sich wie inmitten des Geschehens und eine gewisse Traurigkeit oder Mitgefühlhängt während der ganzen Inszenierung im Raum. Möchte man mit Theater Menschenbetroffen machen, zum Nachdenken anregen oder ihnen eine Botschaft vermitteln, ist dies hier auf jeden Fall gelungen. Neben der Tonebene ist auch die Arbeit mit dem Licht bemerkenswert und ein weiterer wichtiger Faktor, der nicht nur Teil der Geschichte wird, sondern diese ebenso unterstützt. Ob 'der Junge' vom Hausarrest erzählt, dem Bombenattentat oder er sich auf der Flucht befindet, die Inszenierung des Lichts bleibt realistisch und unterstützend für die jeweilige Situation. Die Lichtwechsel zeigen sich in qualitativer und quantitativer Form - es wird nicht nur die Anzahl der Spots verändert und angepasst, sondern auch die Wärme des Lichts. Einen großartigen Unterschied merkt man beispielsweise bei Szenen, in denen es um Familie geht, welche von warmen Licht erfüllt sind, zum plötzlichen Wechsel auf eine Szene der Flucht, die in Dunkelheit gehüllt ist und nur von wenigen kühlen Spots verfolgt wird. Schlussendlich bleibt meinerseits nur Lob für die Inszenierung von "Die Geschichte eines Jungen aus Afghanistan".
So, wie gesellschaftspolitisches Theater sein sollte
Sie ist packend, real und dem heutigen Zeitgeist höchst angemessen. Man erfährt intimste Gedanken und Erlebnisse eines jungen Menschen auf der Flucht aus dem Land, wo sie geboren wurde und ihre ganze Familie immer noch lebt. Die Hauptdarstellerin Alev Irmak spielt mit Realität und Fiktion und nutzt die Grenzen derer aus. Man merkt, wie sie es geschafft hat jedermann in den Bann zu ziehen. Sie besticht mit Authentizität. Ausgezeichnet! Tiefgreifend und zum Nachdenken anregend, so, wie ein gesellschaftspolitisches Theater sein sollte. //
Text: Nina Haider
Kritik zur Aufführung im Dschungel Wien am 27. April 2017