Hallo! - Aufwachen! - Wir schreiben 2007! In wenigen Jahren wird Popkultur nicht mehr nur über Mainstream-Medien bestimmbar sein, auch in Österreich. Wer jetzt den Zug verpasst, sich mit ALLEN Schaffenden ohne manipulative Hintergedanken in ein und dasselbe Abteil zu setzen, hat für immer verloren. Von Chris Gelbmann.
Bei meinem letzten Gang auf die Toilette lese ich wie immer ein paar Zeilen in
dem Buch, das ich gerade lese: Joe Boyd - "WHITE BICYCLES - making music
in the 60ies". (Sehr empfehlenswert übrigens.) Auf den letzten Seiten des
Buches beschreibt Joe Boyd unter anderem, wie sehr ihn seine Großmutter geprägt
hat in seinem Verständnis für Musik und seiner Arbeit in den 60ern, making
music: "Part of our strength came from our sense of connection with the
past. I remember in my teens that the past was so close I could touch it. I
heard my grandmother talk about Vienna at the turn of the century and play
Brahms in a long-forgotten style as I sat next to her on the piano bench,
watching her long veiny fingers."
Mich hat das berührt und aufgewühlt, das zu lesen.
Ausgeatmet und nicht wieder eingeatmet
Und dann dachte ich an die TV-Übertragung des AMADEUS Austrian Music Award 2007. Es macht mich sehr traurig, zu spüren, wie sehr wir den Atem der Vergangenheit scheinbar für immer ausgeatmet haben, wie wenig wir heute durchschauen, was für international fundierte Musik- und Kunst-Kapazunder wir einmal waren. Und es macht mich traurig, dass die einzigen Live-Acts beim Amadeus-Award, die echt, authentisch und rührend, ja auch künstlerisch wertvoll rüber gekommen sind, die Kaiser Chiefs und Naked Lunch waren. Hut ab vor Naked Lunch, schon alleine wegen ihrem Durchhaltevermögen. Und danke, dass sie die Ehre für uns österreichischen Musikschaffenden gerettet haben. Und Mondscheiner fand ich auch erfrischend ehrlich, vielleicht als Opener nicht ideal...
Amadeus Award - die Paraolympics des Pop
Es macht mich traurig, dass ich im Buch eines US-Amerikaners lesen muss,
welchen Stellenwert unsere österreichische musikalische Vergangenheit für den
in London agierenden US-Amerikaner Joe Boyd seinerzeit hatte (bzw. immer noch
hat), während wir hier gerade mal wieder dabei sind, zu lernen, dass es
vielleicht doch nicht so peinlich ist, mit der Gitarre in der Hand oder dem
Klavier unter den Fingern die Welt verändern zu wollen, eine Zeit lang
zumindest... - Was hätte man zu verlieren?
Und liebe Christl, bist Du gar so viel in Deutschland unterwegs, dass es Dir
die Muttersprache auch beim Ankündigen Deiner Band-Kollegen verschlägt oder
spulst Du einfach nur Dein Programm ab? Was ist denn so peinlich dran, aus
Oberösterreich zu kommen? Ein Brite oder Schotte würde nie im Leben seinen
Dialekt verleugnen, nur weil er gerade auf US-Tournee ist. (Dabei warst Du
gerade in Wien, und nicht in Berlin.)
Der Provinzialismus, der in uns allen wohnt, ist durch Minderbemitteltheit an
künstlerischem Mut so sehr gefüttert worden, dass wir nur mehr milde bzw.
erstickt darüber lachen können, wenn Stermann Grissemann so treffend
formulieren, dass der Amadeus eigentlich die "Paraolympics des Pop"
darstellt. Dabei könnten wir in der vordersten Liga mitspielen, wenn das
Wörtchen "wenn" nicht wäre... Und wenn wir "Tradition" und
"künstlerisches Erbe" nicht immer wieder zu lederbehosten
Quetschenvolkspop minorisieren würden oder das große Erbe schlicht und einfach
ignorieren, weil es so einfacher ist, das scheinbar schnelle Geld (und
Ö3-Airplay) zu bekommen.
Zungenkuss mit einem Majorlabel
Und von "wir" und "uns" spreche ich so lange, so lange wir
hier leben und arbeiten, uns als österreichische Künstler, Musiker und
Musikmacher definieren, um uns dann doch lieber an Small Talk und
Do&Co-Buffets delektieren.
Allein die Tatsache, dass es als innovativ und positiv goutiert wird, dass der
größte (und staatseigene) Radiosender des Landes, plötzlich von den "Neuen
Österreichern" spricht, so als ob in Österreich vorher keine Popmusik
gemacht worden wäre, spricht Bände über die Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit
der österreichischen Musikschaffenden. Ja klar, man will ja letztlich doch nur
den "Zungenkuss mit einem Majorlabel" (treffendes Zitat; Walter Gröbchen, wenn ich mich nicht irre), oder
besser mit Ö3, oder am besten mit beiden. Das ist doch das Ziel, und das
bestimmt die Form.
Bloß keinen Inhalt bitte!
Den Inhalt? Ach, was brauchen wir Inhalt. In Zeiten, wo man
sich im "Heute" informiert und schnell mal googelt, anstatt
ordentlich zu recherchieren, braucht man doch keinen Inhalt. In Zeiten, wo
Pressetexte deshalb Wunder wirken können, weil nicht nur Redakteure des o.g.
Blattes "copy-paste" schamlos bequem praktizieren, braucht man keinen
Inhalt. Wozu Inhalt? Das macht doch nur Kopfweh und lenkt vom wesentlichen ab:
Quoten und Verkaufszahlen (wie auch immer die beiden bemessen werden).
Ich persönlich entbinde mich nicht der Verantwortung, etwas genauer zu
durchleuchten, was es bedeutet, hier Musik zu schaffen und zu veröffentlichen.
Jeder Ton Musik ist ein Steinchen im Mosaik der Kulturgeschichte. Wenn man
Glück hat. Aber es lohnt sich, mit dieser Einstellung ranzugehen (sonst kann
man es nämlich gleich sein lassen, denn wenn es nur um Geld und Ruhm geht,
lohnt es sich viel mehr, die Branche zu wechseln, nicht nur in Österreich).
Ja, ja, es geht zumeist nur um die Quote (bzw. das schnelle Geld...), ich weiß.
Und der ORF scheißt sich in die Hose, und somit auch die IFPI, also bringt man
dann doch scheinbare Quoten-Garanten und stilisiert dann die wenigen
internationalen Acts, die sich in die östliche Provinz Europas verirren, zu
Superstars hoch, das Ganze dann gewürzt mit nicht minder provinziellem Humor
des Moderators.
Klar, wäre ich der ORF (und gäbe es "den ORF" in Person), dann würde
ich mir auch große Sorgen machen, um meine Jugendkultur- und
Popmusik-Kompetenz, aber das ist ja auch nicht ein Problem, das man erst seit
gestern hat.
Aber trotzdem (besser: gerade deswegen) verstehe ich das Konzept dahinter
nicht: Ist das alles an Kreativität und Mut, das den Verantwortlichen einfallen
will?
Österreichs Popmusik besteht nicht nur aus Show-Lemmingen
Ist das das Ergebnis der Aktion "SOS ORF" in Bezug auf
Popmusikkompetenz des vorhin genannten Senders, dass man nun in den Gasometer
umgesiedelt ist und ganz tolle rockige Musik sogar live bringt?
Dass die IFPI eigentlich "ein Taubenzüchterverein ist", stammt nicht
von mir. Was die IFPI züchten will, ist mir unklar.
Wann endlich wird man den Mut und die Kompetenz haben, nachvollziehbar zu
präsentieren, dass Österreichs Popmusik nicht nur aus Show-Lemmingen besteht,
ein wenig durchbrochen durch "Indie-Fuzzies" (Zitat Fuzzman, wenn ich
mich nicht irre), die das ganze dann "credible" machen sollen. Und
wem soll diese Mixtur dann bitte schmecken? Wem soll es Lust machen, in Zukunft
in das Ganze einzusteigen? Wer hat denn da wen von jeglicher Inspiration
ferngehalten?
Oder ist man einfach nur stolz, dass es so was wie den Amadeus überhaupt gibt?
Hallo! - Aufwachen! - Wir schreiben 2007! In wenigen Jahren wird Popkultur
nicht mehr nur über Mainstream-Medien bestimmbar sein, auch in Österreich. Wer
jetzt den Zug verpasst, sich mit ALLEN Schaffenden ohne manipulative
Hintergedanken in ein und dasselbe Abteil zu setzen, hat für immer verloren.
Vielleicht eh besser so...
Das Bürgermeister-Gen
Ja, ich weiß, es ist alles nicht so einfach, und man muss so viel unter einen
Hut bringen, usw. usf.
Aber es ist nicht mein Job, verschiedene Interessen unter einen Hut zu bringen,
das ist der Job der IFPI, derjenigen, die das "Bürgermeister-Gen" in
sich haben, und es ist der Job der Sendungs- und Projektverantwortlichen beim
ORF und der verbandelten Handelnden.
Mein Job ist es (weil ich ihn mir gebe), den Finger auf die Wunden zu legen, die
andere vielleicht gar nicht mal mehr als Wunden erkennen (können oder wollen).
Aber meine Finger sind sauber (weil ich sie mir selber wasche) und nicht nur
deswegen kann mein Schmerz in den Wunden nicht allzu groß sein, denn man kann
noch immer sagen: Aber geh, ich les doch nicht, was der schreibt, ich hab
besseres zu tun...
Eine kurze Zusammenfassung, um Missverständnisse weitestgehend zu vermeiden:
-) Es ist gut, dass es den Amadeus gibt.
-) Es ist noch viel besser, dass das Ganze im ORF zu guter Sendezeit ausgestrahlt wird.
-) Es wäre ganz schlecht, wenn der Amadeus als Feigenblatt für die Popmusikkompetenz des ORF dient.
-) Die Nominierungsbedingungen sind äußerst bedenklich, weil in Zeiten wie diesen viel mehr zählt als völlig überholte "Charts", die ja nicht erst seit vorgestern manipulierbar sind, oder Quoten und Verkaufszahlen, deren Bemessungsgrundlagen bei näherer Betrachtung lächerlich erscheinen.
-) Die Nominierungskategorien sind überarbeitenswert. Who the fuck cares, ob wir Ösis dem Gnarls Barkley einen Amadeus umhängen wollen. Nobody cares.
-) Internationale Stars würde ich nur dann live auftreten lassen, wenn sie von der A-Kategorie sind. Alles andere ist uninteressant und peinlich (lustig auch: Ein toller Live-Act wie die Kaiser Chiefs zeigt ja dann doch nur, wo der Bartl den Most herholt.)
-) Nationale Künstler müssen nicht nur (ORF-eigene, meist kurzlebige) "Stars" sein, um aufzutreten, sondern sollen ein Spektrum abbilden, das in dem Land an Musikmachenden Gott sei Dank existiert.
-) Es sollte nur LIVE gespielt werden. Die ganze Playback-Scheiße ist völlig out und old-school.
-) Ein kleines, international völlig unterbelichtetes Land wie Österreich, kann doch bitte nicht mit Hollywood konkurrieren wollen, sondern muss seine eigene Identität finden, kultivieren, präsentieren und ausbauen. Bollywood, not Hollywood.
Mehr Vielfalt, mehr Integration, mehr Mut, mehr Kunst, mehr Musik! Schluss mit biederer Einfalt und Einfallslosigkeit. (Text: Chris Gelbmann; Foto Gelbmann: Dieter Brasch; Fotos Amadeus Award: AMADEUS Austrian Music Award 2007)
Zur Person:
Zunächst Musiker heuert Chris Gelbmann
1997 nach einer Ausbildung zum Marketingfachmann bei EMI Austria als Marketing
Manager an, leitet das dortige Strategic Marketing Department zwei Jahre lang
und wechselt 1999 zu Marktführer Universal Music, wo er in den folgenden Jahren
das größte Artist & Repertoire Department eines Major Labels in Österreich
formt. Unter Gelbmanns Akquise entstehen in den Jahren 2000 – 2003 unter anderem
das Reunion-Album von Papermoon, die zwei höchst erfolgreichen Erstlingswerke
des einzigen aktuellen „Austro“-Popstars Christina Stürmer („Freier Fall“ und
„Soll das wirklich alles sein?“) sowie das erste Major-Signing
des extravaganten, heimischen Ausnahmekünstlers Hans Platzgummer
(„Convertible“). Das Meisterstück seiner A & R Tätigkeit: „Ruf & Echo“
von André Heller, den Gelbmann in vollständiger Eigenregie erst dazu überreden
muss, überhaupt wieder Musik zu machen. Anfang 2004 löst Gelbmann seinen wohl dotierten
Vertrag mit Universal Music und beendet damit seine Laufbahn in der
Major-Tonträgerindustrie, um wieder selbst Musik zu machen. Gründet das Label
Buntspecht und veröffentlicht unter seinem Namen die Alben „The Pink Beast of
Love“ und „Milos and More“.