Genius Kevin Rowland hat es doch noch geschafft seine Dexys (vormals Dexys Midnight Runners) für ein ganzes Album zu reanimieren. Mit "One Day I'm Going To Soar" kann er in jedem Fall Dexys-Fans der ersten Stunde überzeugen, denn die 11 Songs erweisen sich als ein echtes Aufputschmittel.
Dexys: One Day I'm Going To Soar
In Österreich kletterte das Album bis auf Rang 15, in D nur auf Rang 55, und selbst in GB gab es mit Rang 13 keine Top-Ten-Platzierung, obwohl die Medien praktisch unisono das Album überschwänglich rezipierten. In einer britischen Zeitung hieß es sogar, es sei das Album des Jahrzehnts, viele kürten es bereits zum wichtigsten Album des Jahres; dieser Meinung schließe ich mich an. Live sind die Dexys zum Glück auch wieder unterwegs, alleine im September 2012 spielten sie in England und Schottland 11 Konzerte. Neben Rowland und den Ur-Dexys Mick Talbot (Keyboards), Pete Williams (Bass) und Jim Paterson (Trombone) hört man u. a. Neil Hubbard (Roxy Music) und Tim Cansfield an den Gitarren, Lucy Morgan an der Viola und die kongeniale Gesangspartnerin Madeleine Hyland. "One Day I'm Going To Soar" ist ähnlich unmodisch gestrickt wie "Tempest" (2012) von Bob Dylan und "Born To Sing: No Plan B" (2012) von Van Morrison. Dermaßen unmodisch, dass es ohne Abnutzungserscheinungen auch noch in etlichen Jahren gehört werden kann. Die 11 Songs gehorchen dabei einer ausgeklügelten Dramaturgie mit wiederkehrenden Themen und Querverweisen.
Now / Lost / Me
Eröffnet wird das Album mit dem intensiven "Now". Die großen Gefühle und Sehnsüchte werden mit dem ersten Ton geweckt, um nach 1:17 Minute die epische Bandbreite auszupacken. Sofort wird klar: Die Dexys machen da weiter wo sie mit "Don't Stand Me Down" (1985) aufhörten, mit all den Bläsern, (erweiterten) Strings und mit diesen kurzen, prägnanten Gitarreneinschüben (wie man es auch referenziell auf "My Beauty", dem Cover-Versionen-Solo-Album von Kevin Rowland aus dem Jahr 1999 hören konnte), einige Male innerhalb des Songs zwischen Ballade und Up-Tempo wechselnd. In "Now" steckt die ganze Dexys-Bandgeschichte in komprimierten 6:48 Minuten, das mit dem nachfolgenden Minidrama "Lost" in sensationeller wie berührender Manier weitergeführt wird, und überhaupt: Je öfter man das Album hört desto größer wird es. Mit dem dritten Song ("Me") hört man erstmals den großen musikalischen Einfluss von Mick Talbot, der ja in den 1980er Jahren gemeinsam mit Paul Weller als The Style Council firmierte. "Me" hat diesen jazzigen Souleinschlag, der eine ganz spezielle Stimmung vermittelt - wie so oft bei Rowland: urtraurig, aber nicht gänzlich hoffnungslos. So minimalistisch die ersten drei Songs betitelt sind - "Now", "Lost", "Me" - so lustvoll ist die musikalische Ausrichtung, so poetisch die Rowlandsche Lyrik. Mit dieser Trilogie endet auch die erste Plattenseite der Doppel-Vinyl-Ausgabe.
She Got a Wiggle / You / I'm Thinking of You
Weiter geht es mit der Single "She Got a Wiggle", das uns in die prickelnde Lust-Zone der Soul-Rhythmik führt als schweißtreibende Atemlosigkeit und mit schönen Grüßen von Al Green, bei dem Love immer auch Happiness ist. Bei Rowland triumphiert hingegen der Selbstzweifel über die Sehnsucht, von wegen Freude, L.O.V.E. und Eierkuchen. Auf Vinyl hört sich all das noch eine Spur raffinierter an, die versteckten Details kommen ungleich besser aus den Lautsprechern, der Sound strahlt noch mehr Glanz und Wärme aus. Ein eindeutiges Lieblingslied auf diesem Album zu finden ist schwer, das Niveau der 11 Songs ist im Wesentlichen gleich hoch, aber Track Nummer fünf namens "You" ist einer meiner Favoriten. Wie Rowland hier seine Gefühle mit dem Gesang zu variieren vermag ist einsame Klasse. Solcherart Intonation was Betonung durch erhöhten Druck auf einer Silbe, Tonhöhenverlauf und Pausengliederung anbelangt und so eine Metaebene erzeugt, haben nicht viele zeitgenössische Sänger im popkulturellen Bereich drauf. Ein Meisterwerk von einem Song, komponiert von Kevin Rowland und Mick Talbot, die Texte (wie alle Texte auf diesem Album) stammen von Mr. Rowland. Ähnliches gilt auch für das Herzerweichende "I'm Thinking of You". Hier hört man eine mögliche Inspiration vom Georgie Fame Song "This Guy's In Love With You" (Rowland coverte das Lied auf "My Beauty") und sicherlich auch Frank Sinatras "In The Wee Small Hours", jenem Konzeptalbum aus dem Jahr 1955, das als eines der ersten Konzeptalben überhaupt gilt und zu jenen 1001 Alben zählt, die man hören muss, bevor man stirbt. Der Dexys-Sänger ließ sich von Sinatras Album - und von Marvin Gayes "Here, My Dear" (1978), das wiederum vom Rolling Stone Magazin zu den 500 Greatest Albums of All Time gewählt wurde - inspirieren. Zwei A Man Alone Alben also, die quasi als Pate für "One Day I'm Going To Soar" stehen. Und vor allem den Sinatra-Einfluss hört man im Song "I'm Thinking of You" sehr deutlich. Die Einsamkeit des Wanderers ist hier gefüllt von Dunkelheit, der sich nach der Lichtgestalt, der Frau seiner Träume, sehnt. "So open your heart / and let me come through", fleht Rowland, während Mick Talbot auf seinem Instrument, dem Organ, die Geheimnisse der Gefühle flirren lässt. Dazu zärteln die Strings und das Saxofon schwebt. Ein Gefühlsbeben par excellence. Damit endet die zweite Plattenseite der ersten LP.
I'm Always Going to Love You / Incapable of Love / Nowhere is Home
Der große Auftritt von Madeleine Hyland folgt auf der dritten Plattenseite des Albums. Das Alleinsein des konzeptuell angelegten Protagonisten hat ein Ende und somit weicht die überbordende Sehnsucht dem schicksalhaften Drama. Gefühlsbezeugungen ohne Ende machen den Auftakt in "I'm Always Going to Love You"; nach dreieinhalb Minuten erfolgt der Gefühlsbruch, die Zweifel wirklich lieben zu können. Madeleine Hyland und Kevin Rowland treten darauf hin in eine Art Zweifelgesang. Rowland zweifelt am Konzept Liebe und Hyland verzweifelt an Rowlands Zweifel. Das hat was, vor allem viel Theatralik, als ob die Echtheit in der Liebe verloren ginge. Musikalisch wird dabei auf Schnellgang geschaltet, nicht nur im locker-luftigen "I'm Always Going to Love You", sondern noch viel mehr im darauf folgenden herausragenden "Incapable of Love". Hier entfacht sich ein Streitgesang, da Rowland sich ja zur Unfähigkeit zu lieben bekennt. Hyland fordert "All or Nothing", während sich Rowland eine offene Beziehung wünscht. Drama ohne Ende also und ganz großes Theater. In "Nowhere is Home" ist Rowland wieder alleine, dies auf mehreren Ebenen, schließlich gibt es "keinen Rosengarten" für ihn, aber auch kein Konzept für Heimat und Nationalität. "I just gotta be myself/ take your irish stereotype and shove it up your ass", heißt es in dem Song, das so etwas wie das Herzstück des Albums ist. "I don't know where I belong", singt Rowland auch, und: "Nirgends ist mein Zuhause und ich werde frei sein". Seine eigentliche Heimat ist ja aber soundso die Soul-Musik und "Nowhere is Home" zeigt dies in aller Deutlichkeit. Curtis Mayfields Gitarrenstil taucht hier auf und wenn die Streicher auf Zuruf Rowlands abheben, können wir nur staunen, was die Dexys anno 2012 musikalisch alles auf die Reihe kriegen.
Free / It's O.K. John Joe
Die letzte Plattenseite beschert uns nur noch zwei Lieder. Die typische DMR Nummer "Free", in der Bassist Pete Williams in Zwiegesang/-gespräch mit Rowland tritt. "Free" hört sich nach der endgültigen Überwindung der Liebe und schwer nach einem ganz persönlichen Happy End für Rowland an. Diese Freiheit impliziert zudem die Freiheit zu haben musikalisch erst dann wieder aktiv zu werden, bis ER soweit ist und nicht andere es von ihm fordern: Rowland in einem Interview mit dem Telegraph: "My creativity is pretty sacred to me. It all comes from that pure place within me, or outside of me, or wherever it is - I don't know where it comes from. It's not my mind, it's somewhere else, otherwise I'd be making albums every year!" Diese unbedingte Freiheit zehrte ordentlich an seiner Substanz, unruhige und sicherlich alles andere als schöne Jahre trieben ihn in die innere Emigration und hin zu Drogen und temporäre Obdachlosigkeit. Wenn er (ähnlich erging es übrigens seinem musikalischen Langzeitpartner Jim Paterson, der 16 Jahre lang nicht Trombone spielte!) aber bereit ist Musik mit den Dexys zu machen kommen zeitlose Musikstücke hervor, die einerseits von Tempo- und Tonartwechseln leben und sich andererseits anhand der Bläser- und Streichersätze der von E-Gitarren dominierten Rockmusik distanzieren, sodass man die Dexys als echten Widerpart zur gängigen Rockmusik anerkennen muss. Zur Erinnerung: Kevin Rowland war ursprünglich Punk in einer kurzlebigen Band namens The Killjoys, doch als die Energie von 1977 schwand, blieb er desillusioniert zurück und war überzeugt, dass sich die Rockmusik totgelaufen hatte. Also besorgte er sich alte Soulplatten, formierte um sich und Kevin 'Al' Archer (der zweiten kreativen Kraft der Anfangsphase, der aber bis heute nicht gut auf Rowland zu sprechen ist) die Dexys Midnight Runners, probte ein Jahr lang bis sie zu jenem Sound fanden, der ihrer Soulvision entsprach und letztendlich auf dem Debüt-Album "Searching for the Young Soul Rebels" (1980) zu hören ist. Die Bläser (Streicher fehlten da noch) entwickelten dabei eine Kraft wie E-Gitarren und hoben Punk auf eine Metaebene (es war ja die Zeit von Postpunk). Die Dexys Musik setzt keinen Staub an (egal welches der drei Alben zwischen 1980 und 1985 man hört), und so wird auch "One Day I'm Going To Soar" keinen Staub ansetzen, dafür ist das zu Gehör gebrachte viel zu frei und viel zu beseelt. "Real love? No, I don't know anything about that / I still believe in love I just don't know what it is, not really", erzählt Rowland larmoyant seine Gefühlslage schließlich in der epischen Ruhe von "It's O.K. John Joe", seiner therapeutischen Abrechnung mit sich und der Welt in knappen acht Minuten und zitiert dabei auch Marvin Gaye ("Millions never will, they never will"), dass andere es auch nicht besser wissen. Er resümiert, dass es okay ist alleine zu sein und fragt gegen Ende des Liedes (des Albums): "Ist da ein neues Leben am Ende der Reise?" Rowland bleibt uns die Antwort nicht schuldig: "It's not the end of the world, cos I think I'm meant to be alone". Und wenn man bereits glaubt, das Lied sei ausgeklungen, hebt Rowland erneut seine Stimme und feuert die Band noch ein letztes Mal an: "1.2.3.4 / Oh yeah!! / I'm FREE!" - ... - Und die Dexys entlassen uns in die Bläserverzierte Glückseligkeit. (Manfred Horak)
CD-Tipp:
Dexys: One Day I'm Going To Soar
Musik: @@@@@@
Klang: @@@@@@
Label/Vertrieb: Buback / Indigo (2012; CD/Do-LP)
Link-Tipp:
Dexys