Das Jahr 1968 war geprägt von psychedelischer Musik und langwierigen Studiotüfteleien. Bob Dylan zog dieser elektrischen Musik die Stöpsel raus und nahm innerhalb von nur neun Stunden sein "John Wesley Harding" auf.
Schließlich war sogar rettendes Land in Sicht. Während die Welt anno 1968 in Katastrophen, Krieg und Krisen versank [u.a.: Ermordung von Martin Luther King, Prager Frühling, Arbeiter- und Studentenrevolte in Frankreich, Sternmarsch auf Bonn, US-Massaker in Vietnam; Anm.], versank die Musikwelt in psychedelisch-geprägten Farben und Motiven. The Beatles hatten ihr "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" und prägten wiederum die Gegenkultur, basierend auf Frieden, Liebe und Freiheit. Sex und Liebe, lange Haare, psychedelische Musik und diverse bewusstseinserweiternde "Aufputschmittel" - letztere erhielt man z.B. seit 1966 in Haight-Ashbury (San Francisco) im Psychedelic Shop und natürlich auch bei den Acid Tests, Stichwort LSD/Timothy Leary, während des mehrtägigen Trips Festival in San Francisco rund um den ausufernden Live-Auftritten von Grateful Dead. Die psychedelische Musik war 1968 an ihrem Zenit, viele verloren sich in der Sucht und kamen nicht mehr daraus hervor, andere hatten mehr Glück.
Das erste Bibel-Rock-Album
Das Musikjahr 1968 wurde nachhaltig allerdings von einem Album bestimmt, das im Gegensatz zu den explodierenden Farben des Psychedelic-Rock eine meditative Gelassenheit ausstrahlte und zudem eine besänftigende Wirkung und Einfluss auf die Musikwelt ausübt(e): "John Wesley Harding" von Bob Dylan. Auf Dylan, der zuvor mit dem Doppel-Album "Blonde on Blonde" (1966) einen Meilenstein ablieferte und zugleich seinen ersten großen Rock-Zyklus abschloss, lastete ein gewaltiger Druck, dem er sich durch einen mysteriösen Motorradunfall und mit dem Abtauchen in die abgeschottete Privatsphäre aufs Land [konkret: auf die Südseite von Woodstock Valley; Anm.] geschickt entzog. Der mit Dylan befreundete Journalist Robert Shelton schrieb in der Biografie "Bob Dylan: Sein Leben und seine Musik" (Goldmann; 1986): "Details über Dylans Motorradunfall am 29. Juli 1966 waren nicht leicht zu erfahren. Immer wieder war zu lesen, Dylan habe beinahe sein Leben verloren. Es scheint wahrscheinlicher, dass dieser Unfall sein Leben rettete." Und The Chicago Tribune schrieb 1967: "Ein großer Teil dessen, was in der Popmusik geschehen wird oder nicht, hängt von Dylans Wiedererscheinen und seiner Botschaft ab." Auf Live-Bühnen ließ er sich in den nächsten acht Jahren nur selten blicken. Gerade mal einige wenige Einzelauftritte wie das Doppelkonzert in der Carnegie Hall am 20.1.1968 anlässlich des Todes von Woody Guthrie, das Festival Isle of Wight im August 1969 und das Konzert für Bangladesh im August 1971 absolvierte er.
Das Gefühl von festgetrocknetem Lehm an den Stiefeln
Untätig war er dennoch beileibe nicht. Zunächst spielte Dylan gemeinsam mit The Band die Lieder zu den berühmten "Basement Tapes" ein, die jahrelang als Raubpressungen kursierten bevor sie 1975 erstmals offiziell veröffentlicht wurden. Ein Album, das nicht nur The New York Times als "das großartigste Album in der Geschichte der amerikanischen populären Musik" bezeichnete. An die Öffentlichkeit ging Dylan am 27.12.1967 jedoch mit dem Album "John Wesley Harding", das in gewissem Sinne auch als Antithese zur beatlesken Extravaganz von "Sgt. Pepper" steht. Stießen The Beatles damit bei einer Aufnahmezeit von mehr als 700 Stunden in die Grenzbereiche der Studiotechnik vor, begab sich Dylan bei einer Aufnahmezeit von nur neun Stunden gemeinsam mit dem Produzenten Bob Johnston und den Musikern Pete Drake (pedal steel guitar), Charlie McCoy (bass) und Kenny Buttrey (drums) in die qualitative Reduzierung einer Folk-Country-Schlichtheit. Mit "JWH" bereitete Dylan zudem einmal mehr den Weg für eine Heerschar an Musikern auf, denn letztendlich ist "JWH" das erste "Back-to-the-Roots"-Album und der Startschuss für eine alternative Country-Szene. Die bekanntesten Lieder auf dem Album sind sicherlich "All along the watchtower" und "I'll be your baby tonight", ersteres erhielt von Jimi Hendrix die unerreichte elektrifizierte Statur, zweites wurde unzählige Male gecovert. Textinhaltlich begab sich Bob Dylan auf eine neue Meta-Ebene, zudem kommen alle Lieder ohne Refrain aus. Die ersten zehn Lieder sind geprägt von Geschichten über Outsider und Outlaw-Helden, von der Suche nach dem eigenen Licht, von quälenden Zwiegesprächen und voll von biblischen Anspielungen während die letzten beiden Lieder mit den Klischees des Gemeinplatzes Liebe spielen. "JWH" ist die Befreiung von Ballast, ein Sog von Frischluft, rettendes Land inmitten all der Irrlichter und nicht zuletzt "die Beendigung des längsten und lautesten Schweigens in der Geschichte der Rock-Musik", wie es der Autor John Williams einmal formulierte. Ein Album, das nicht nur 1968 eine durchschlagende Wirkung erzielte, sondern noch heute ob der archaischen wie mysteriösen Leichtigkeit in den Bann zieht. //
Text: Manfred Horak
Erstveröffentlichung in Suite 101
SACD-Tipp:
Bob Dylan: John Wesley Harding
Musik: @@@@@@
Klang: @@@@@@
Label/Vertrieb: Columbia/Sony (1967; 2003)
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