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Aufbau Taschenbuch
829 Seiten
ISBN-10: 374662164X
ISBN-13: 978-3746621647
Vorweg: Zweifellos ist das exzellent geschrieben. Dennoch befällt den heutigen Leser / die heutige Leserin Zweifel, warum man sich 829 Seiten zu Irren und Wirren einer englischen „Upper Class“ im 19. Jahrhundert antun sollte. Der vermeintliche Kurzschluss ist einer: Die letztes Jahr vorgestellte Verfilmung des Romans durch Mira Nair mit Reese Witherspoon in der Hauptrolle der Becky, dem sich die Taschenbuchausgabe verdankt, hält der Vorlage nicht stand.
Jahrmarkt der Eitelkeit
Zu Beginn dieses „Romans ohne Held“, so Thackeray, verlassen Fräulein Amelia Sedley und Fräulein Rebecca (Becky) Sharp ihr gepflegtes Mädchenpensionat für „höhere Töchter“ und kennen als weiteres Lebensziel nur die „gute Partie“, eine komfortable, materiell begüterte Ehe. Becky ist der Underdog, der nur aus karitativen Gründen Aufnahme ins Pensionat fand und dort schon allerlei Demütigungen hinnehmen musste. Sie ist intelligent, weiß sich gesellschaftlich angenehm zu geben und schreckt als mittelloser No Name in der Folge auch nicht vor schamlosen Schmeicheleien und Intrigen bis hin zum Ehebruch und, vielleicht, Mord zurück, um sich ihren sozialen Aufstieg und Ansehen einer Wohlhabenden (durch Zuwendungen und Erbschaft) zu sichern. Im 20. Jahrhundert hätte Becky vermutlich eine sehr gute Geschäftsfrau abgegeben, eine frühe Coco Chanel oder Elsa Schiaparelli, dahin dachte Thackeray nicht.
Gerippe der Verfallenheit
Amelia Sedley stammt aus begütertem Haus, sie sehnt sich nach edler Liebe und wahren altruistischen Freundschaften. Sie ermöglicht Becky selbstlos Zutritt zur „besseren Gesellschaft“, in der, kommt mir vor, die Männer des Romans als Gerippe der Verfallenheit dienen. Sie erscheinen großherzig, aber dumm oder engstirnig, auch dumm - vielleicht ist das das, was Thackeray meint: in diesem Roman kommt niemand gut weg. Amelia büßt ihre moralischen Neigungen mit tiefster Verarmung, der Vater verspielt das Vermögen der Familie. Der Jahrmarkt der Eitelkeit, die Nichtigkeit menschlichen Strebens schließt, mit Becky als bloß behaupteter „Lady“ unter Spielern.
Die Geschichte hat viele scharfe Wendungen, die der Autor, eher irritierend für die Gegenwart, stets nur andeutet. Das mag Leser/innen zu einer Auseinandersetzung mit dem „viktorianischen Roman“ führen. Das Viktorianische fürchtet jeden Überschwang menschlicher Gefühle und Leidenschaften. Es ist unfein, über Dinge wie Ehebruch, Mord oder Armut zu sprechen. Und Thackeray musste sich als Autor gegen einen maßgeblichen Zeitgenossen behaupten: Charles Dickens. Dickens - wie Becky Sharp - trieb im Grund ein Hass auf zeitgenössische soziale Verlogenheit an. Aber wo sich Dickens öfter in märchenhafte Elemente einer überirdischen Phantasie oder Gerechtigkeit literarisch flüchtet, bleibt Thackeray in der Ambivalenz des Hier und Jetzt. Seine Figuren sind nicht Individuen, sondern Prototypen, allerdings solche, für die es weder eine diesseitige noch eine jenseitige (Er-)Lösung gibt. Thackeray glaubt weder an die „Vorsehung“, noch das „Schicksal“, noch „Glück“.
Der Roman war bei seiner ersten Erscheinung rasch ein Publikumserfolg und scheint mir aus dieser Perspektive nach wie vor ungeheuer modern. Wer etwas von den Wurzeln des europäischen Nihilismus, etwa bei Sartre oder Camus, wissen will, sollte Thackeray lesen. Und eine weit bessere Verfilmung, besser filmische Interpretation eines Buches dieses Autors - mit ähnlicher Thematik - gibt es auch: Stanley Kubrick: „Barry Lyndon“. Wärmste Empfehlung. (Monika Gentner)