"Land of Stories". So bezeichnet die tschechische Tourismusagentur das Land, das Martin Becker mit seiner Essaysammlung "Warten auf Kafka" zu ergründen versucht.
Auf den ersten Blick mag dieser Slogan vielleicht ein wenig einfältig scheinen, beschäftigt man sich jedoch genauer mit unserem nördlichen Nachbarland, so merkt man, dass kaum eine Zuschreibung treffender sein könnte. Becker hat sich als Schauplatz der Haupthandlung seines Buches eine tschechische Kneipe ausgesucht, genauer gesagt ein sogenanntes Nonstop. Denn alle Erzählungen kontemporärer tschechischer Schriftsteller würden irgendwann in einer Kneipe enden, oder sie zumindest streifen, so seine These.
Von der Ergründung der tschechischen Seele
Die Erzählung des Protagonisten, der von einer geheimen Gesellschaft nach Prag gelockt wurde, um die tschechische Seele zu ergründen, wird zusammengehalten von mehreren Essays, die sich jeweils mit einem bekannten Literaten oder einer bekannten Literatin beschäftigen. Der Versuch, diese einzelnen Portraits mit einer eigenen, kafkaesken Geschichte zu verbinden, wirkt stellenweise etwas bemüht und erzwungen. Die Essays an sich sind jedoch sehr liebevolle, respektvolle Texte; man merkt, dass Becker sich mit den Autoren auseinandergesetzt hat und sie aufrichtig verehrt.
Leidenschaft und Sprachmusik
Das erste Schriftsteller-Portrait widmet Martin Becker der großen Božena Němcová. Die Erzählerin aus Ostböhmen, die eigentlich in einer deutschsprachigen Familie sozialisiert wurde, prägte die tschechische Sprache und Literaturlandschaft enorm. Obwohl sie aus einfachen Verhältnissen stammte, war sie der gehobenen Kunst und dem Schreiben schon früh zugetan: "In meiner Seele ist seit frühester Jugend das Streben nach Bildung eingepflanzt, das Verlangen nach etwas Höherem, Besserem, das ich in meiner Umgebung nicht gesehen habe", wird sie aus einem ihrer Briefe zitiert. Franz Kafka schwärmte von der Leidenschaft und Sprachmusik ihres Stils. Ihr Hauptwerk "Die Großmutter" ist bis über die Landesgrenzen hinaus berühmt. Němcová tat sich auch als Märchensammlerin hervor, außerdem stammt die bekannte Adaption des Aschenputtel-Stoffes "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" aus ihrer Feder. So richtig begann man sie in Tschechien erst unmittelbar nach ihrem frühen Tod für die Verdienste um das Land zu verehren. Ihr Begräbnis war ein öffentliches Spektakel und noch heute kennt sie jedes Kind: ihr Konterfei prägt den Fünfhundertkronen-Schein.
Die Magische Prager Schule
Im nächsten Kapitel folgt dann eine weitere Größe der tschechischen Literatenszene, Bohumil Hrabal. Hrabal wurde in Brünn geboren und hat in Prag Jura studiert. Später wurde ihm der Tschechslowakische Staatspreis für Literatur verliehen, dennoch wird ihm im Zuge des Prager Frühlings ein Publikationsverbot erteilt. Die Zensur trifft sein Schaffen hart, tut jedoch seiner Popularität keinen Abbruch. Zudem war er der Meinung, dass "Künstler das Leid brauchen um besser zu sehen, um, wenn sie den Tiefpunkt ihres Sturzes erreicht haben, das zu erblicken, was andere nicht sehen, was das Wesen des Menschen und der ihn umgebenden Welt ausmacht." Becker schreitet mit seinem Buch weiter durch die Magische Prager Schule, vorbei an Jaroslav Hašek und seinem braven Soldat Schwejk, an Karel Čapek (auf den die Erfindung des Wortes "Roboter" zurückgeht) und natürlich darf auch Kafka nicht fehlen. Lange Zeit wurde Franz Kafka in Tschechien jedoch kaum rezipiert, denn im tschechischen Sozialismus war es damals nicht möglich ihn zu lesen. Eine Gesamtausgabe in tschechischer Übersetzung gibt es gar erst seit dem neuen Jahrtausend. Kafka liebte die tschechische Sprache, immer wieder betonte er, dass das Deutsche zwar seine Muttersprache, aber das Tschechische die Sprache seiner Seele sei.
Hartnäckig das Träumen nicht aufgegeben
Eine ähnliche Faszination für die (tschechische) Sprache hegte auch Lenka Reinerová, die nächste literarische Station Beckers. Reinerová, deren größte literarische Begabung im Schreiben von Portraits lag, wurde unter anderem wegen ihrer jüdischen Herkunft lange verfolgt. Sie saß während des Zweiten Weltkriegs in Paris im Gefängnis und sollte auch nach ihrer Rückkehr nach Prag wieder für eine Zeit ins Gefängnis gehen. Doch in Reinerová steckte immer ein starker Überlebenswille. "Ich habe hartnäckig das Träumen nicht aufgegeben, so schwierig es auch war, nicht in Albträume abzugleiten." Erinnerungen an bessere Zeiten sind es, die sie weitermachen lassen. "Es gibt die Farben und das Licht der Sonne, ich kann nur hinter diesen Mauern nichts davon merken."
Charta 77
Das nächste von Martin Beckers Essays widmet sich Vaclav Havel. Der ehemalige Präsident der Tschechoslowakei bzw. ab 1993 Tschechien, war schon bevor seinem Aufstieg als Politiker ein gefeierter Theater-Schreiber. Doch nach dem Prager Frühling ereilte auch ihn ein Publikationsverbot und er musste einige Zeit im Gefängnis verbringen. Samuel Beckett, in dessen Werk man auch viele Parallelen zu Havels Werk und seinem absurden Theater finden kann, widmete dem in Haft sitzenden Havel sogar ein Theaterstück. Später schloss er sich der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 an und wurde 1989 schließlich zum Präsidenten gewählt.
Er hörte die Schreie der Menschen und sah die Flammen
Ota Pavel wiederum war Schriftsteller und Sportjournalist. Sein Vater und seine Brüder überlebten knapp ihren Aufenthalt in einem KZ während des Zweiten Weltkrieges. Ota Pavel selbst konnte einer Deportation entgehen, da er damals noch zu jung war; blieb jedoch von traumatisierenden Erlebnissen und Erfahrungen mit Kriegsgräuel nicht verschont. Unter anderem hat er miterlebt, wie der Reichsprotektor Reinhard Heydrich, auch "der Schlächter von Prag" genannt, das gesamte Dorf Lidice auslöschte. Ota Pavel wohnte im Nachbarort, er hörte die Schreie der Menschen und sah die Flammen, in denen das Dorf brannte - als weiterführenden Literatur-Tipp hierzu sei "The Dead Look On" von Gerald Kersh (Ace Books, 1958) empfohlen. Kurz nachdem der Krieg vorbei war, begann Pavel mit der Arbeit als Sportjournalist und veröffentlichte in den folgenden Jahrzehnten noch weitere, teils sehr persönliche Werke.
Tschechische Melancholie
In weiterer Folge begegnen uns noch Karenin, der Hund aus Milan Kunderas Roman "Die unendliche Leichtigkeit des Seins", Petr Hruska, Jana Cerná, die Tochter der Geliebten von Kafka, Milena Jesenská, Ludvík Vaculík und sein Roman "Das Meerschweinchen" und Jáchym Topol, welcher ebenfalls das kommunistische Regime ertragen musste und in den 1980er Jahren das Magazin "Revolver Revue" gründete. Sein bekanntester Roman "Die Schwester" erschien Ende der 1990er Jahre. Am Schluss ist man traurig, dass das Buch zu Ende ist und wünscht sich einerseits, es mögen noch weitere Essays folgen, andererseits ist man aber auch begierig darauf, nun selbstständig die tschechische Literatur zu erkunden. Man spürt das von Becker in jedem Kapitel heraufbeschworene Gefühl; ein Heimweh nämlich, nach einem Land, in dem man gar nicht geboren oder aufgewachsen ist, welches man nicht einmal wirklich gut kennt. Und dennoch meint man, einen Teil von sich dort wiederzufinden, auf irgendeine Art und Weise verbunden zu sein mit der tschechischen Melancholie, irgendwie nach Prag zu gehören. //
Text: Christina Masarei
Foto: Ekko von Schwichow
Buch-Tipp:
Martin Becker: Warten auf Kafka
Eine literarische Seelenkunde Tschechiens
Bewertung: @@@@
Paperback , Klappenbroschur, 224 Seiten
ISBN: 978-3-630-87576-7
Verlag: Luchterhand Literaturverlag (März 2019)