Ein heikles Thema deshalb, weil die revolutionären Vorstellungen von Künstlern, wie dem Schriftsteller und späteren faschistischen Politiker Marinetti oder dem Bildhauer, Maler und Universalkünstler Boccioni, sowohl das Tor zur Öffnung der Kunst in das neue Jahrhundert weit aufstießen als auch unzweifelhaft ideologische Gedankenstützen von Krieg und Faschismus wurden.
Brutaler Aufbruch in die Moderne Und bei genauer Betrachtung finden sich nach wie vor wesentliche Elemente des "Futuristischen Manifests" von 1909 in heutigen Kunstwerken und alltagskulturellen Entwicklungen. Dabei geht es um die bedingungslose Verherrlichung von Geschwindigkeit, Simultanität, faszinierte Technikgläubigkeit, Fortschrittsdrang und Verachtung von Besinnung und Reflexion. Obwohl diese künstlerischen Maximen in ihren ersten politischen Ausprägungen durch den Faschismus aufgegriffen, dort von ihren Protagonisten hochgehalten wurden und damit eindrucksvoll ihr menschenverachtendes Versagen demonstrierten, verlor der künstlerische Kern dieser Richtung nicht seine Faszination auch auf nachfolgende Generationen. Eine Architekturzeichnung des Futuristen Sant'Elia geht problemlos als Straßenbild der heutigen Wiener "Donauplatte" durch, Boccionis Skulptur "Forme uniche della continuità nello spazio" ziert die aktuelle italienische 20 Cent Münze (auch ein bemerkenswertes Abbild aktueller italienischer Politirrungen). Und auch die Strömungen des Dadaismus, Surrealismus, Pointilismus, Kubismus und Konstruktivismus befinden sich in inhaltlicher Nähe und überschneiden sich teilweise damit. Die radikale Ablehnung alles Alten (verachteter "Passatismus") und die zwingende Kraft von Technik und Geschwindigkeit finden sich als Faszination bis in aktuelle künstlerische Äußerungen - von der Literatur bis zur multimedialen, elektronischen Kunst.
Geschichte, Ästhetik, Dokumente Es ist ein Verdienst des Autors von "Futurismus", sowohl thematisch diese Ausstrahlung zu beleuchten, als auch diese mit Originaldokumenten (oftmals eigens aus dem Italienischen übersetzt) zu belegen. Und nicht zuletzt auf die gefährlichen politischen Irrwege hinzuweisen, in die sich diese ursprünglich kraftvolle Bewegung begab, als sich die totale Ablehnung der Reflexion in absolutes und damit totalitäres und vernichtendes Handeln artikulierte. Auch aus diesem Grund ist dieses nicht ganz leicht zu lesende aber umfassend informative Nachschlagwerk zu empfehlen. Manch blindwütig in Geschwindigkeit und vermeintliche Moderne ratterndes spätpubertäres Künstlergemüt wäre gut beraten, sich ab und zu eingehender der Geschichte dieser Idee und ihrer Entwicklung zu widmen. Dazu bietet dieser Wegweiser von Schmidt-Bergmann gute Gelegenheit. (Tristan Jorde)
Buch-Tipp: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus - Geschichte, Ästhetik, Dokumente Bewertung: @@@@ Verlag: Rowohlts Enzyklopädie (Neuausgabe 2009)
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