mit den Schlagworten:

sofja-tolstajaNach dem späten Erfolg ihres ersten Werkes "Eine Frage der Schuld" wurde nun ein weiterer von Leidenschaft, Kummer und Leid geprägter Roman der, anno dazumal "nur" als Ehefrau Lew Tolstois bekannten, Schriftstellerin Sofja Tolstaja veröffentlicht. Kurz und mitreißend - wie es Emotionen eben so an sich haben - ist dieses Werk, das unter anderem einen weiteren Einblick auf das Eheleben der Tolstois wirft.

Eine Frau gehobenen Standes im Russland des 19. Jahrhunderts verliert ihre Mutter. Schmerzerfüllt und sinnlos streift Alexandra Alexejewna wie ein streunender Hund durch die Gegend und ist eher ein Schatten ihrer selbst als das Abbild einer Mittzwanzigerin, die in gutem Haus mit Ehemann und Sohn ein bürgerliches Leben führt. Bis eines Tages die Musik eines wohlerzogenen, vornehmen Komponisten sie wieder zum Leben erweckt. Damit kehren aber auch alte Zweifel und Qualen in ihr gewohntes Umfeld zurück. Die aufkeimende Sehnsucht nach Liebe und Leidenschaft reift stillschweigend in der Protagonistin heran bis sie die junge Alexandra Alexejewna ganz einnimmt und diese zu platzen droht.

Die Zeit für diese Erzählung wird kommen: nach meinem Tod. Bis dahin soll sie im Archiv liegen.

Über hundert Jahre hat es gedauert bis diese Prophezeiung Sofja Tolstajas wahr wurde. Und Recht hatte sie mit diesen Worten, denn der gute alte Tolstoi würde sich beim Lesen des 2010 in deutscher Übersetzung erschienenen Romans seiner zuletzt nicht mehr allzusehr geschätzten Frau, beschrieb er sie doch als den Inbegriff einer "schlechten Schriftstellergattin", wohl im Grab umdrehen. Jahrzehnte lang im Schatten des berühmten russischen Autors war es ihr zuweilen nicht nur eine Qual als Lektorin für ihren Ehemann zu fungieren. "Dienstmädchen des Schriftstellers und Gatten" wollte Tolstaja nicht länger sein. "Ein eigenes Leben, ein eigenes Werk und nicht die Arbeit an fremden Werken" waren ihr sehnlichster Wunsch. So begann sie 1893 auf die wenig hübschen Aussagen bezüglich Frauen in der "Kreutzersonate" (Lew Tolstoi, 1890) mit ihrem ersten Roman "Eine Frage der Schuld" (erstmals erschienen 1994) zu antworten. Im Reich der Worte fand letzten Endes auch sie - ganz wie ihr zu Lebzeiten begnadeter Mann - Zuflucht vor den Umständen ihres eigenen Lebens. "Glücklich sind jene Ehefrauen, die bis zum Ende freundschaftlich und voller gegenseitiger Anteilnahme mit ihren Gatten leben! Unglücklich, einsam hingegen sind die Ehefrauen von Egoisten, von bedeutenden Menschen, aus denen die nachfolgenden Generationen Xanthippen machen!"

Und wir, die gewöhnlichen Sterblichen, laufen in unserer Einsamkeit, in unserer Liebe zu jenen, die diese Grenze zwischen sich selbst und uns ziehen, voller Schmerz gegen diese Mauern an.

Abgesehen von der Verarbeitung autobiographischer Geschehnisse aus Sofja Tolstajas Leben - der Tod ihres Sohnes Wanetschka (1895), die Erlösung aus einer immerwährenden Lethargie durch die Musik des russischen Komponisten und Freund der Familie Sergej Iwanowitsch Tanejew und eine damit einhergehende Leidenschaft und Liebe zu demselben, sowie die Distanz zu Lew Tolstoi als Ehemann - ist der Roman "Lied ohne Worte" eine mitreißende, emotionale Schrift, die literarisches Feingefühl beweist. Als Leser beschreitet man den Weg Alexandra Alexejewnas, versteht wirre Verhaltensmuster und scheinbare Absurditäten vonseiten der Protagonistin und muss immer weiter, immer weiter, um den Druck, der auf der Hauptdarstellerin lastet und somit die Spannung, die dieser Roman bietet, zu lösen. Ein einmaliges Werk in wunderschöner Sprache, das zum Versinken und Mitfühlen einlädt. (Nathalie Wessely)

sofja-tolstaja-lied-ohne-woBuch-Tipp:
Sofja Tolstaja: Lied ohne Worte
Bewertung: @@@@@
ISBN: 978-3-7175-2210-2
Verlag: Manesse (2010)