mit den Schlagworten:

islamisten-schlager01Jürgen Kuttner und André Meier konzipierten 1996 eine populärwissenschaftliche Präsentation deutscher Fernsehgeschichte, die sogenannten Videoschnipselvorträge, und entwickeln dieses Konzept bis heute. Das vorläufige Ergebnis dieses Prozesses ist dieses kleine Buch mit dem großem Titel "Die Geburt des radikalen Islamismus aus dem Hüftspeck des deutschen Schlagers und andere west-östliche Denkwürdigkeiten".

 

Jürgen Kuttner, dessen Name größer auf dem Umschlag abgedruckt ist, ist außerhalb Berlins - und der jüngeren Generation - weniger bekannt durch sein journalistisches Werk, sondern aufgrund sein leibliches: Tochter Sarah Kuttner ist bekannte Moderatorin, Kolumnistin und neuerdings auch Romanautorin. Beschäftigt man sich nun mit ihrem Vater, weiß man, woher sie ihre freche Schnauze hat. Der Titel selbst birgt schon eine provokante These. Als Leser vermutet man hinter der Kontraktion zweier so gewichtsmäßig gegensätzlicher Themen natürlich Effekthascherei. Schlager und Terror, wie geht das zusammen? So umformuliert liegen aber dann doch keine Welten mehr zwischen den Begriffen. Das ist bezeichnend für dieses Werk: Man wähnt sich kurz in der trügerischen Sicherheit, Klamauk zu konsumieren, dabei bedienen sich die Autoren nur einer unterhaltenden Sprache (mit einer so selten gelesenen Formulierungsfreude) um seriöse aufklärerische Arbeit zu leisten. Aufklärung im Kantschen Sinne, als Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit hervorgerufen durch: manipulatives Fernsehen. Ums Medium Fernsehen geht es nämlich ausschließlich.

Betriebsanleitung: Wie schaue ich richtig fern?

Kuttner selbst ist nicht nur praktischer Medienprofi - er war jahrzehntelang Radiomoderator - nein, auch professioneller Analytiker, nämlich promovierter Kulturwissenschaftler. Das schlägt sich auch in seinem Beschreibungsrepertoire nieder. Da wird nicht mit Fachbegriffen gegeizt, an Vergleichen mit großen Denkern der Geschichte nicht gespart. Dr. Kuttner erklärt die Medienwelt ein bisschen wie unser Dr. Paal. Er demonstriert sein gehöriges Wissen sowohl zur Unterhaltung als auch zur intellektuellen Horizonterweiterung. Wenngleich das Buch hochaktuell ist, was Kommentare und Wissensstand betrifft, so sind die zur Erklärung herangezogenen Beispiele schon ein wenig älter und decken einen Bereich von den Anfängen des Massenmediums in Deutschland bis in die frühen 1990er ab. Die beschriebenen Ausschnitte selbst sind vielleicht nur wenige Minuten lang, manchmal nur Sekunden, was aber dann an Bedeutung geschöpft wird ist beeindruckend. Nun mögen Wörter wie 'Überinterpretation' fallen und der alte Streit über die Schere zwischen schöpferischer Absicht und hermeneutisch-übereifrigem Sehen-Wollen wieder hochkochen, aber vieles, was hier erklärt ist absolut plausibel. So sind die Schnipsel Dokumente z.B. der Veränderung der Frauenrolle in der Gesellschaft bzw. der Versuch, dieser Veränderung Einhalt zu gewähren, Zeugnisse politischer Situation (die meisten Beispiele stammen aus dem DDR-Fernsehen, das den Autor vornehmlich prägte) und generell kultureller Konventionen.

Wo die Krux beim Fernsehen liegt

Auch plausibel der fiktionale Teil der Anamnesen: Oft wird über die Vorgeschichte einer Szene spekuliert, also was sich bis zu gezeigten Geschehen im Leben der Akteure abgespielt haben mag und wie deren Leben danach weitergegangen sein wird. Hier zeigt sich Menschenkenntnis und Weltwissen - oder aber Klischeedenken. Ich tendiere zu ersterem. Dem unbedarften Konsumenten wird verständlich gemacht, wo die Krux beim Fernsehen liegt (mehr noch als in Zeitschrift und Radio): Gab es ganz zu Anfang wirklich noch so etwas wie Neutralität und die Kamera war im Idealfall ein erweitertes Auge, so wandelte sich das Medium rasch vom Beobachter zum Realitätsusurpator, der Wahrheit umschreibt und Wirklichkeit konstituiert. Fernsehen ist gemachte, also unechte Realität, somit paradox. Es verfügt qua verführerische Darreichungsform (mit Bild und Ton) über gehörige Macht und drängt den Menschen durch seine Unidirektionalität in eine passive Rolle. An die gewöhnt man sich so gern, dass ein Entzug z.B. das ganze kommunikative Gefüge einer Familie aus dem Gleichgewicht bringen kann (ein interessantes Experiment, vom Fernsehen selbst durchgeführt, belegt das).

Kritische Satireschrift

Dieses Buch ist an Sprachwitz, Scharfzüngigkeit, Ironie und schonungsloser Ehrlichkeit so dicht wie es reine Satireschriften nicht sind. Hier eine längere Passage als Beweis: "Heute würde doch keiner mehr auf die Idee kommen, die Berlinale als High-Society-Spektakel zu geißeln. Im Gegenteil, inzwischen stehen sich sogar schon Laminatlegerlehrlinge die Beine in den Bauch, um ein Ticket für eine mongolische Langzeitdokumentation über einen transsexuellen Stutenmilchverkäufer zu erwerben. Man könnte diese Veränderung als eine Demokratisierung begreifen und begrüßen, weil das Proletariat nicht länger ausgesperrt ist. Für mein Dafürhalten tut es allerdings weder der Gesellschaft gut, das Proletariat nicht auszusperren, noch tut es dem Proletariat gut, nicht ausgesperrt zu sein. Das wiegt sich nämlich jetzt in dem trügerischen Glauben, dazuzugehören und benimmt sich entsprechend. Die schöne bürgerliche Gesellschaft geht den Bach runter. Und der Protest korrumpiert sich selbst, vergisst, dass Rucola eigentlich Unkraut ist, lässt sich den Unterschied zwischen Sushi und Uschi erklären, füllt mit seiner Weltanschauung das Olympiastadion und fragt bestenfalls, ob er heute mal Contrasecco statt Prosecco haben könnte, ihm sei halt so, er weiß schließlich noch, wo er herkommt..." Interessant ist generell Kuttners Blick (über den Co-Autor ist wenig zu erfahren) auf das stärker politisch indoktrinierte Ostfernsehen als Insider. Insider nicht nur, weil er in der ehemaligen DDR aufwuchs, sondern auch weil er zugibt, für die Stasi inoffizieller Mitarbeiter gewesen zu sein. Zum Schluss zur Wirkung. Das Buch ist ein sprachliches Zuckerl, aber eines, das im Halse stecken bleiben kann. Die Autoren zitieren im Buch einen schönen Satz von Wolfgang Neuß: "Heut' mach' ich mir kein Abendbrot, heut' mach ich mir Gedanken." Nie ein dummer Rat, aber im Umgang mit Medien besonders zu beherzigen. Dieses Buch hat die Kraft, zum Denken anzuregen, den stillen Konsumenten zu einem reflektierten Rezipienten zu machen. Und sicher hat es die Kraft, Lachkrämpfe auszulösen. (Text: Peter Baumgarten; Fotocollage: Manfred Horak)

juergen-kuttner-islamismusBuch-Tipp:
Jürgen Kuttner/André Meier: Die Geburt des radikalen Islamismus aus dem Hüftspeck des deutschen Schlagers und andere west-östliche Denkwürdigkeiten
Bewertung: @@@@@@
Taschenbuch: 240 Seiten
Verlag: rororo (2009)
ISBN-10: 3499625113
ISBN-13: 978-3499625114