Ortheils Roman ist die eindringliche Erzählung einer Biographie, die unter tragischen Vorzeichen beginnt und ihrem Protagonisten zwar ein großes Defizit mitgibt, aber gleichzeitig auch ganz besondere Fähigkeiten und nicht zuletzt eine außergewöhnliche Beziehung zu seinen Eltern.
Der erfolgreiche Autor Johannes Catt zieht sich nach Rom zurück, um die Geschichte seiner Kindheit und Jugend zu erzählen. Die Geschichte eines stummen Knaben, ängstlich bewacht von der Mutter, die vor ihm vier Kinder verloren hat. Der kleine Johannes erweist sich als außerordentlich begabter Klavierspieler und beginnt in Rom ein eigenes, freies Leben, das an einer Sehnenscheidenentzündung zerbricht. Daraufhin beginnt er zu schreiben. Dreißig Jahre später erfindet der Schriftsteller, der Johannes geworden ist, dieses Leben nach, um es in der Erinnerung noch einmal zu bewältigen. Ein stummer Knabe lebt in symbiotisch enger Beziehung mit seiner ebenfalls stummen Mutter in einer Wohnung im Köln der Nachkriegszeit. Der Vater ist in dem kleinen Familienkreis die einzige Person, die spricht. Wenn er abends von seiner Arbeit als Geodät heimkehrt, liest er die Zettel, mit denen die Mutter kommuniziert. Hanns-Josef Ortheil zieht den Leser im ersten Teil seines neuen Romans tief in dieses stille und still verharrende Leben, dessen Schönheit sich einem ebenso erschließt wie der ganze Schrecken, den es für das Kind bereithält. Als ein Klavier in die Wohnung kommt, beginnt der Junge zu spielen und findet damit endlich ein Ausdrucksmittel und ein neues Gleichgewicht, wird jedoch durch den Schuleintritt wieder aus der Bahn geworfen. Der Vater, heimliche Hauptfigur des Buches, fasst einen Entschluss. Er erzählt dem Jungen nicht nur endlich von den tragischen Ereignissen, die die Mutter und damit auch ihn verstummen haben lassen, sondern er entfernt ihn außerdem aus der engen Beziehung mit ihr und fährt mit ihm zu einem langen Aufenthalt aufs Land, zu seiner Familie. Dort lernt Johannes schließlich sprechen. Der begabte Klavierschüler soll in einem von Zisterziensern geleiteten Musik-Internat weiter ausgebildet werden, das System Internat ist jedoch unerträglich für den Jungen, der das ständige Beisammensein mit anderen Menschen nicht erträgt und aus der engen Beziehung mit den Eltern zu früh herausgerissen wurde. Er beendet die Schule in einem musischen Gymnasium in Köln und reist nach dem Abitur nach Rom. Die Ewige Stadt erweist sich als heilsamer Ort und bereits kurz nach seiner Ankunft weiß Johannes, dass er hier bleiben wird, um am Konservatorium seine Konzertausbildung zu machen. Er weiß auch, dass er hier endlich Freunde finden und ein "römisches Leben" führen wird. All das trifft ein, ebenso wie die erste große Liebe, ein Rausch, auf den der Absturz folgt: eine Sehnenscheidenentzündung und damit das Ende der Klavierlaufbahn. Johannes fährt zurück zu seinen Eltern und erkennt nach einer tiefen Krise dank seines alten Klavierlehrers, dass er "im Grunde seit seiner Kindheit ein Schriftsteller gewesen ist"; bald erscheint sein erster Roman. Damit endet die Geschichte von Johannes, der drei Jahrzehnte später nach Rom zurückgekehrt ist, um seine Kindheit und Jugend aufzuschreiben. Parallel zu dem Roman wird seine Entstehungsgeschichte erzählt, des Autors römische Gegenwart, in der er die beschriebenen Entwicklungen gewissermaßen noch einmal erleben muss, vom einsamen Eremitendasein bis zum Entstehen neuer Beziehungen und der Wiederaufnahme des Klavierspiels. Denn es ist kein altersweiser Rückblick, die letzte tiefe Krise, das Ende des Klavierspiels, wird erst in der Erzählgegenwart überwunden. Hanns-Josef Ortheil erzählt in seinem autobiographischen Roman "Die Erfindung des Lebens" die ersten 25 Jahre seines Lebens, das in der Tat außergewöhnlich ist. Er beschreibt, wie die Jahre ohne Sprache an der Seite der Mutter die Wahrnehmung von Johannes, seinem Alter Ego, schärfen. Er lernt das Beobachten, das Merken auf Details, das ihm nachher das Schreiben und Sprechen Lernen ermöglichen wird. Ortheil fängt diese Wahrnehmung sprachlich ein, es gelingt ihm, die anfängliche Welt in ihrer Isoliertheit und Stille in einen präzisen Stil umzusetzen, und bei der Erzählung der römischen Jahre schwelgt er in Sprache wie Johannes in seiner neuen Freiheit. In diesem Kontext können auch die überbordenden Schilderungen nachgesehen werden, die hier teilweise gar langatmig und üppig geraten. In Andeutungen und Vorgriffen werden beständig die Linien nachgezeichnet, die zum Schreiben hinführen. Dabei geht es letztlich um ein System der Wahrnehmung und ein System, mit Wahrnehmung umzugehen. Johannes, dieses Kind, das seine ersten Jahre unter so eigenartigen Umständen verbracht hat, kommt mit dem gängigen System nicht zurecht. Er passt nicht in das System Schule und nicht in das System Internat und braucht sein eigenes System, um sich seine Welt zu konstruieren, um das Leben zu erfinden. In der Figur des Vaters, der das "Programm" seines Sohnes schließlich begreift und ihm das System Sprache zugänglich machen kann, zeichnet Ortheil das liebevolle Porträt eines tief gläubigen Mannes. "Die Erfindung des Lebens" ist die eindringliche Erzählung einer Biographie, die unter tragischen Vorzeichen beginnt und ihrem Protagonisten zwar ein großes Defizit mitgibt, aber gleichzeitig auch ganz besondere Fähigkeiten und nicht zuletzt eine außergewöhnliche Beziehung zu seinen Eltern. Hanns-Josef Ortheils Roman besitzt eine bemerkenswerte Ausgewogenheit in der Schilderung der schönen wie der dunklen Seiten, der Hilflosigkeit der Charaktere und ihrer Schuldigkeit. Der Erzähler betrachtet nicht nur die anderen Figuren kritisch, sondern auch und vor allem sich selbst, ohne dabei zu verurteilen. Es ist ein wohltuender Erzähler, der dem Leser dieses Leben so näher bringt, wie Johannes es sich erfunden haben muss. (Laura Freudenthaler)
|
||