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Wagenbach (2007)
Roman
Aus dem Englischen von Ingo Herzke
352 Seiten
ISBN-10: 3803132142
ISBN-13: 978-3803132147
Alfred Day, der im Zweiten Weltkrieg Heckschütze der Royal Air Force war, findet sich Ende der 1940er Jahre in Deutschland als Filmstatist in einem Gefangenenlager wieder. Day, der sich nach dem Krieg nicht mehr in der Welt zurechtfindet, scheint selbst nicht wirklich zu wissen, warum er sich dazu entschieden hat, an den Dreharbeiten teilzunehmen, und was er in der Lagerkulisse zu suchen hat. Doch Day hat einen Grund für seine Reise: "Deshalb hatte es womöglich seinen Sinn, daß er hier auftauchte und zumindest herausfand, was ihm fehlte, vielleicht sogar die Lücke füllte."
Durch die Authentizität des Lagers werden Erinnerungen an seine Kindheit in Staffordshire, seine Liebe in London, seine Ausbildungs- und Kriegsjahre freigesetzt. Vor allem handelt das Buch von den stummen Jahren nach dem Krieg, nach denen niemand fragt. Ein Panorama von Days Leben breitet sich vor den Augen des Lesers aus: Man erfährt, wie Day im zarten Alter von 15 Jahren, als der Krieg ausbrach, den Wunsch verspürte, sich freiwillig zu melden, um seiner Familie, seinem brutalen Vater, zu entfliehen. Als er wenig später seine Ausbildung beginnt, wird klar, dass seine neue Familie von nun an seine Flieger- Truppe ist, deren sämtliche Mitglieder bei einem Einsatz ums Leben kommen. Nur Day überlebt und gerät in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft spürt Alfred nichts mehr. Ein tiefes, dunkles Loch klafft in seiner Seele: "Am Ende seiner Gefangenenzeit war Alfred ein anderer gewesen, neu und sich selbst überraschend. Er lebte auf eine Weise, die er nicht wiedererkannte: leicht und fern, als sei er schon entlassen, als habe die Befreiung unter seiner Schädeldecke begonnen, ihn von seinem Lehm, von seinem Fleisch befreit. Er brauchte nicht mehr zu fühlen, nicht mehr zu essen."
Doch die 'Befreiung' hat noch längst nicht stattgefunden. Day ist ein Gefangener seiner selbst und vor allem von seiner Erinnerung, der er sich nicht entziehen kann, und die die Realitätsverweigerung faktisch unmöglich macht. Deshalb werden auch Verdrängung und Unmoral in "Day" als grausam enttarnt. Als sich eine Bekanntschaft Days am Filmset zu brutalen Kriegsverbrechen bekennt, muss Day einsehen, dass sich trotz seines verzweifelten Versuches, auf den Schergen aufmerksam zu machen, niemand für die Wahrheit interessiert. Deutlich bezieht an dieser Stelle die Autorin Position und verurteilt dieses Verhalten. Die Verdrängung wird auch durch die Sprachlosigkeit dargestellt, die durch das Gebärden der Soldaten im Kriegsalltag deutlich wird. Die Moral der Soldaten ist blinde Befehlsbefolgung. Was befohlen wird, wird ausgeführt, und es ist besser, keine Fragen zu stellen, und sich erst recht keine Gedanken um die Folgen ihrer Taten zu machen. An die vielen Opfer, die vielen Ziele, die verfehlt wurden, kann und darf nicht gedacht werden. Der Soldaten Schmerz bleibt stumm, denn für diesen ist kein Platz, darf keiner sein. In der Welt des Krieges ist der Mensch sein eigener Feind: „Nur Menschen können dir was anhaben. Vor denen kannst du gar nicht genug Angst haben.“ Die Verdrängung gilt als einzige Überlebenschance im Krieg und als tödliche Falle nach dem Krieg. Day weiß, dass er ihr entkommen muss, um sich wieder selbst zu spüren. Die Menschen finden sich nach der Ohnmacht des Krieges in einem Zustand zwischen Aufarbeitung und Verdrängung wieder und sehnen sich danach, aus dem entsetzten Schlaf zu erwachen.
Durch den Krieg wird die Willkürlichkeit des Schicksals aufgezeigt, das vor niemandem halt macht. Durch diese negative Dimension entsteht aber gleichzeitig auch eine positive, in der der Anti-Held Alfred Day dazu aufgerufen wird, die Unberechenbarkeit des Lebens zu begreifen, und aus dieser existentiellen Ungewissheit die Erkenntnis zu erlangen, dass man das Leben in jenen Bereichen, die man selbst beeinflussen kann, in die Hand nehmen soll. Mit dieser lebensbejahenden Einsicht endet das Buch.
"Day", der neue Roman der in Schottland geborenen Autorin A. L. Kennedy, ist ihr erster Versuch im Genre "Kriegsroman", was sich durch ihre vehemente Irak-Kriegsgegnerschaft erklärt. In einem Interview sagte die Autorin - die auch an Film- und Theaterprojekten sowie als Comedian arbeitet - dass "Day" nicht nur ein historischer Roman ist, sondern auch das Wesen des Krieges einzufangen versucht. Das ist ihr zweifelsohne gelungen. Was hingegen in "Day" nicht aufzugehen scheint, ist die Figurenpsychologie, denn die Charaktere wirken oft unmotiviert und hölzern. Auch die Hauptfigur scheint der Autorin ein wenig entglitten zu sein. Sie zeichnet das Porträt einer verletzten Psyche, eines traurigen Liebenden, eines harten Jungen, ja sogar eines Mörders, der zusätzlich ein zart beseelter Büchernarr ist, was zusammen genommen doch ein unstimmiges Bild entstehen lässt. Zuviel scheint A. L. Kennedy für ihre Figuren zu wollen. Zu manövriert bewegen sich die Charaktere durch das Romangeschehen. Gefühlvolle und weinerliche Passagen der geschilderten Liebesbeziehung zu Joyce (sic!) wechseln sich mit harter Kriegssprache ab, die trotz oder wegen der intensiven Recherchen der Autorin doch eher abgedroschen wirkt. Auch die filmischen Rückblenden, die aus verschiedenen Perspektiven wieder gegeben werden, sind wenig kunstvoll gearbeitet und wirken oft aufgesetzt. (Julia Zarbach)
Live-Tipp:
Wer sich selbst ein Bild von der vielseitigen Autorin machen möchte, hat dazu am 19. September 2007 um 19 Uhr in der Hauptbücherei Wien Gelegenheit. Da liest sie nämlich zusammen mit dem Übersetzer Ingo Herzke aus ihrem Roman.