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Wagenbach Verlag (2006)
140 Seiten
ISBN-10: 3803125499
ISBN-13: 978-3803125491
Eine kleine Kulturgeschichte lautet der Untertitel des wunderbaren Buches, erschienen im Wagenbach Verlag. Der Autor Alain Montandon begibt sich in "Der Kuß" auf die Spurensuche, wie denn und wo denn möglicherweise der Kuss entstand, aber schreibt auch über die vielen verschiedenen Kussarten – sei es den Ritenhaften oder den Heiligen, natürlich auch von den nie enden wollenden, und von den Filmküssen, den Küssen in Romanen und über die Küsse von Vampiren. Bereits im Vorwort wird auf das Hohelied Salomos verwiesen: "Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes", übersetzte Luther dereinst den ersten Vers vom Lied der Lieder. Montandon analysiert gleich zu Beginn im Kapitel "Mund-Propaganda" sehr ausführlich was denn überhaupt ein Kuss sei: "Zunächst handelt es sich beim Küssen um eine rein körperliche Erfahrung. Haut, die sich berührt, vermag zu beleben und die Sinne zu schärfen. Man schmeckt den anderen und spürt das eigene Begehren. Die Berührung geschieht jedoch nicht nur im konkreten, sondern auch im übertragenen Sinn." Im wichtigen Kapitel "Geschichte eines Rituals" dechiffriert der Autor quasi die Kuss-Codes der Bewohner verschiedener Erdteile, und natürlich auch jener der indigenen Völker. Der Kuss als intime Handlung, bisweilen intimer als der Koitus. Ob romantisch oder erotisch – der Autor lässt nichts aus, wühlt in alten Briefen, zerrt Zitate aus der klassischen und auch zeitgenössischen Literatur hervor, stellt diese gegenüber, beobachtet, ziseliert und berichtet über die beschriebenen Empfindungen und Rauschzustände, wie z.B. jenen aus Ugo Foscolos "Letzte Briefe des Jacopo Ortis", in dem es hieß: "Fast zum Gott bin ich nach jenem Kusse geworden."
Kein ehrlicher Mann wird einen geraubten Kuss für sich behalten. Er wird ihn sofort zurückgeben.*
Alain Montandon geht aber auch der Frage nach, ob ein Kuss etwas in einem Theaterstück zu suchen habe, "nicht nur, weil er die Schauspieler am Sprechen hindere, sondern auch aufgrund von Gattungskonventionen und aus Gründen der Schicklichkeit und Ästhetik". Anders, so Montandon, in Romanen – dort wird zwar aufgrund des Kusses auch der Redefluss beeinträchtigt, nicht aber die Erzählung an sich. Metaphern wie "von den Lippen trinken – von den tausend süßen Likören" führen den Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Blaise-Pascal in Clermont-Ferrand denn auch zum Vampir, der sich ja vom Blut des Opfers ernährt, "um ihr Leben über den Tod hinaus zu verlängern" – und von dort mündet es direkt ins Kapitel "Das Abscheuliche küssen". Von wohlriechenden Atem und dessen Gegenteil ist hier die Rede, und sogar aus Catulls Spottgedicht wird zitiert: "Nein, bei den Göttern – nie hätt ich geglaubt, dass ein Unterschied wäre, ob des Aemilius Maul oder den Hintern man riecht. Saubrer ist nicht das eine und unsaubrer auch nicht der andere, aber sein Hintern vielleicht saubrer und besser noch ist: so ohne Zähne." Montandon schöpft in diesem Kapitel aus dem Vollen, und trägt so zur besonderen Erheiterung seines Buchs bei. Von alten Frauen ist hier z.B. die Rede, "alt wie Herodes, trocken wie eine Bodendiele, gerunzelt wie eine Gewürzgurke und hässlich wie die sieben Todsünden". 130 Seiten schmal ist "Der Kuß. Eine kleine Kulturgeschichte", aber weitaus wertvoller als der empfohlene Verkaufspreis von 10,90 Euro. (Manfred Horak)
*Mark Twain