Gewissermaßen ein Aha-Erlebnis bietet die bis März 2011 gezeigte Retrospektive der 2003 verstorbenen österreichischen Multi-Künstlerin Birgit Jürgenssen im Bank Austria Kunstforum in Kooperation mit Sammlung Verbund.
Es ist dies die erste postume Birgit Jürgenssen Retrospektive mit 180 Werken aus dem Nachlass und 50 Arbeiten aus der Sammlung Verbund, sowie mit einzelnen Leihgaben verschiedener Museen, Galerien und Sammlungen. Gezeigt wird die ganze Spannbreite ihres Schaffens, wenn auch beileibe nicht alles, oder, wie Gabriele Schor, die Leiterin von Sammlung Verbund erklärte: "Es gäbe noch genug für eine zweite Retrospektive". Bereits im ersten Raum wird man von ihren Werken gefangen genommen, von der Kraft und Subtilität, von der Schönheit und von ihrem Selbstverständnis Grenzgänge zu beschreiten. Selbstironie und Subversion, die Lust am Surrealismus und Sprachspiele verknüpfen sich mit Experimentierfreudigkeit und zugleich Wiedererkennbarkeit in poetische Kunst. Feministische Avantgarde ist das allgemeine Stichwort, wenn über das Gesamtwerk von Birgit Jürgenssen gesprochen wird. Dass leider nicht allzu viel über ihr Werk gesprochen wurde hängt sicherlich auch damit zusammen, dass sie, wie es in einem Essay über Jürgenssen heißt, "im Klima eines männlich dominierten öffentlichen Lebens und Kunstbetriebs Ende der 1960er Jahre" in der Kunstszene auftauchte, und im Gegensatz zu anderen Künstlerkolleg/innen, nicht das schrille, laute und aktionistische Mittel wählte, sondern eben die stille, beobachtende Haltung einnahm. Regelrecht erstaunt macht die Vielseitigkeit ihrer Kunst, die jedoch niemals auf Kosten der Qualität ging. Egal welches Genre sie bediente, ihr gelang jedes Mal eine spezielle Aneignung, ein besonderer Zugang, meistens unterfüttert mit Humor. Unmengen von Selbstportraits zieren die Ausstellung, glaubt man z.B. bei einem (Ohne Titel, 1978), dass sich Jürgenssen hier als Joni Mitchell malte, sind es tatsächlich oft Selbstportraits in verschiedenen Formen von Weiblichkeit, quasi Metamorphosen, mit bemerkenswerter Leichtigkeit auf Leinwand gebracht. Aber es gibt auch Widerstand in ihrem Werk, und das nicht zu knapp. Herausragend sicherlich ihre Schwarz-Weiß-Fotografie "Ich möchte hier raus!" aus dem Jahr 1976, das sie an eine Glastür gepresst zeigt, oder ihre fotografische Rückenansicht mit dem Titel "Jeder hat seine eigene Ansicht", wie auch die engelhaften Farb-Fotografien 20 Jahre später. Bei diesen Engel-Fotografien bestimmt das harmonisierende weiche Licht mit einer stark verdichteten Ästhetik das Geschehen. Ein Teil der Retrospektive widmet sich natürlich auch ihrer "Hausfrauen"-Serie. Werbeästhetik als Gesellschaftskritik, sei es bei ihrem Objekt "Hausfrauen-Küchenschürze" (1975), sei es bei ihrer Zeichnung "Hausfrau" (1974), die sich an Lewis Carroll Alice im Wunderland anlehnt. Zu erforschen gilt es auch ihre fotografischen Inszenierungen, das quasi Andere in sich, wie z.B. ihre hervorragende Polaroid-Serie und ihre Badezimmerfotografien (1973), und zu verinnerlichen gilt es ihre Werke über Schuhe, allen voran der "Schuhsessel" (1974) und "Schwangerer Schuh" (1976). "Nicht mehr der Schuh als solcher war mir wichtig", erklärte Birgit Jürgenssen im Jahr 1977, "sondern der Schuh als ein Objekt, das in der Art seiner Wahl und Benutzung Rückschlüsse auf Lebenshaltung, -einstellung, -standard, auch auf den Charakter seines Trägers zuließ." Weiblicher Fetischismus über die Fantasie sexueller Verfügbarkeit und weiblicher Unterwerfung ist in ihren Werken ebenso ergründbar wie Körperprojektionen, Improvisationen und Fotomontagen mit psychoanalytischem Gehalt, oder, wie Jürgenssen einmal meinte: "Es geht mir bei diesen Aufnahmen weniger darum, dass ich es selbst bin, die sich hier fragmentiert und anamorphotisch darstellt. Es ging ums Objekt. Die Identität der Frau ist zum Verschwinden gebracht, bis auf den fetischisierten Gegenstand, dem Fokus männlichen Wunschdenkens." Und: "Mein Interesse liegt nicht in der Darstellung der Dinge selbst. Diese werden erst spannend, wenn die zwischen ihnen existierenden Beziehungen in den Vordergrund treten." Nach dem Superstar Frida Kahlo nun also eine österreichische Künstlerin, deren Wiederentdeckung längst überfällig ist. Sich die Ausstellung entgehen zu lassen wäre ein großes Versäumnis. (Text: Manfred Horak; Abbildungen/Fotos: VBK)
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