Neue Wege sind dringend gefragt, wie Baumethoden zu neuer Architektur führen können und warum Weiterbauen im Bestand sinnvoller ist als auf Neubau zu setzen.
Zehn Strategien für die Architektur
In einer Lebenszyklusanalyse mit Berechnung der Ökobilanz und der Lebenszykluskosten von Wohngebäuden im Auftrag des Bayerischen Landesamts für Umwelt wurde die Erkenntnis gewonnen, dass ein Gebäude 40 bis 70% der CO₂-Emissionen, die es im gesamten Lebenszyklus verursacht, bereits bei Fertigstellung ausgestoßen hat. Daher, so die Empfehlung, sollte Sanierung und Umbau den Vorzug gegenüber Abriss und Neubau haben. Angesichts der Klimakatastrophe ein notwendiger und wichtiger Schritt, um enorme Mengen Grauer Energie einsparen zu können. Die Nutzung von Brachen und Leerstände durch Bestandserhaltung und Sanierung statt Abriss und Neubau sollen dabei zusätzlich weitere Zersiedelung, Versiegelung und nicht zuletzt Verkehr verringern.
Sorge um den Bestand
In zehn Strategien für die Architektur plädieren Architekt*innen und Urbanist*innen aus Deutschland, Österreich, Schweiz und Niederlande für ein Weiterdenken und achtsames Reparieren von gebauten Lebensräumen und Wohnkulturen. Sie zeigen, wie sich neue Perspektiven im urbanen und ländlichen Kontext durch vernetzte Ansätze, durch gemeinwohlorientierte Kooperationen und Beteiligungskonzepte ergeben. Strategien, die in Österreich von großer Bedeutung sind, da hierzulande der Bodenverbrauch bekanntermaßen sehr hoch ist. In Österreich gibt es laut Umweltbundesamt 13.000 Hektar Industriebrachen. Inklusive Gewerbeflächen und leerstehenden Häusern schätzt man die verbaute ungenutzte Fläche auf etwa so viel wie die gesamte Wohnnutzfläche in Österreich von insgesamt 41.489 Hektar. Laura Holzberg, sie ist künstlerische Leiterin vom Deutschen Architektur Zentrum (DAZ) erklärt, dass ein Perspektivwechsel auf den Bestand gefordert ist, "es gilt, den Neubau möglichst zu vermeiden, wir müssen unser persönliches Handeln verändern, insbesondere aber auch in der Bauindustrie, da einfach wahnsinnig viele CO₂-Emissionen, Ressourcen und Materialien aufgebraucht werden."
Umdenken ist gefordert
Eine große Rolle bei diesen Überlegungen und Forderungen spielen zudem auch kulturelle Implikationen in der Bestandserhaltung. Laura Holzberg: "Gerade im Bestand von Gebäuden geht es auch um Menschen und um die sozialen Beziehungen. Was existiert bereits und welche Geschichte hat es? Ein Gebäude soll nicht nur als gebaute Form zu sehen sein, sondern auch darüber hinaus." Gefordert ist dabei ein möglichst rasches Umdenken im kleinen Maßstab des täglichen Konsums wie im großen Maßstab des Bauens. "Es ist eine große Zukunftsoption", so Susanne Wartzeck, die Präsidentin des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten BDA, "um die Zusammenhänge zwischen Gebäude und Stadt, zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen in eine ökologische Balance zu bringen. Allzu leicht lässt sich der Abriss mit einem Kostendruck, mit technischen Vorgaben oder der Auffassung, dass sich Reparieren generell nicht lohnt, begründen. Umso wichtiger ist es daher, den nicht nur ökonomischen Wert von Bestandsgebäuden zu erkennen und zu verstehen und über Konzepte für ein Um- und Weiterbauen nachzudenken."
Auf dem Weg zu Zukunftsorten
Leerstehende und verödete Stadtzentren und Dorfkerne wieder mit Leben zu füllen, ist eines der zentralen Punkte der "Zehn Strategien für die Architektur", wie sie auch anhand von Projektbeispielen in der Ausstellung "Sorge um den Bestand“ in der Alten WU in 1090 Wien im Herbst 2023 zu sehen waren und wie es im gleichnamigen Buch vom Jovis Verlag nachzulesen ist. Immer mehr Dörfer und Städte haben kein Zentrum mehr, sie sehen aus wie ein Donut, ohne Identität und Attraktivität. Das Leben findet am Stadtrand statt, in peripheren Eigenheimsiedlungen und Einkaufszentren, aufrechterhalten mit einem hohen Mobilitätsaufwand. Wie ein zeitgemäßes Leben auf dem Land umgesetzt werden kann, die eine eigene Qualität erreicht, also technologisch am Puls der Zeit, aber achtsam und entschleunigt, damit befasst sich das Wiener Architekturbüro und Ideenwerkstatt "nonconform“ rund um Roland Gruber, Maria Isabettini und Peter Nageler. "Die Metapher vom Donut aufgreifend“, so Gruber, "stellt sich die Frage, wie Dörfer und Städte wieder zum Krapfen mit gehaltvoller Füllung werden. Wenn Menschen an der Zukunftsgestaltung ihrer Lebenswelt beteiligt werden, wenn sie sich in die Veränderung ihres Lebensortes mit Ideen und Vorstellungen einbringen können, kann das gemeinschaftliche Leben in Dörfern und Städten gestärkt werden.“ Partizipation ist also gefragt, damit gestalterische Konzepte entwickelt, gefördert und umgesetzt werden können. Vitalisierung alter, leerer Hüllen erfordert mitunter experimentelle Ideen, die das Leben dort wieder attraktiv machen, sei es neue Wohnformen, sei es gemeinschaftliche Treffpunkte für den sozialen Zusammenhalt, sei es Nahversorgung mit Gütern und Kultur, bis hin zu vernetzter und flexibel nutzbarer Mobilität, und nicht zuletzt eine Wirtschaft, die regional innovative Impulse setzt. "Ein Wirtshaus“, so Gruber, "bleibt nicht nur Schank- und Gastraum, sondern bietet auch Raum für Seminare, für junges Wohnen und die Poststelle mit Ladenzone für Kulinarik.“ Mit der Verstädterung und der Zerstörung alter Dorfstrukturen ist außerdem viel Wissen verloren gegangen, und was früher unberührt und unerschlossen erschien, ist heute oft nur eine monokulturelle Geld- und Energiemaschine. Architektin Kerstin Schultz: "Deshalb müssen wir viel Energie in ein neues Denken investieren, welches die Gesamtzusammenhänge der jetzigen Zeit thematisiert. Nur so können kluge Entscheidungen getroffen werden, um zukunftsfähige Strukturen zu schaffen.“ Eine weitere Strategie besteht darin, dass Bauen nicht auf einmalige Nutzung, auf Abfallexport, thermische Beseitigung oder Deponierung abzielt, sondern auf Wiederverwertung. Gebäude und deren Bauteile sollen dermaßen hergestellt, geplant und sortenrein verbaut werden, dass darin enthaltene Rohstoffe mit einem geringen Aufwand und somit rentabel für einen Wiedereinsatz zurückgewonnen werden können. "Dieser gigantische Ressourcenverbrauch im Bauen“, meint Laura Holzberg, "muss sich ändern. Heute errichtete Gebäude sind der Bestand von morgen, das Gold der Zukunft." Der Gebäudebestand spielt daher für den ökologischen Wandel, den Klima- und Ressourcenschutz eine zentrale Rolle und muss dringend einen Diskurs über den sorgsamen und verantwortlichen Umgang mit dem Bestehenden, unserer Erde und der vorhandenen Architektur in Gang setzen, denn die Welt ist gebaut, alles ist schon da. //
Text: Manfred Horak
Fotos: Foto Freisinger, Georg Scherer wienschauen.at, Hertha Hurnaus
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