Wien-Betrachtungen eines Germanen, Teil 2
Österreichische Immunität, die; -en: bezeichnet ugs. den Amtsmissbrauch und/oder Verstoß gegen bestehendes Recht und gute Sitten bei Verwaltungsbeamten oder politiknahen Personen ohne strafrechtliche oder auch nur irgendwie geartete Folgen; geht zurück auf das von der Öffentlichkeit tolerierte gesetzeswidrige Gebaren österreichischer Politiker; Synonym: Narrenfreiheit.
Wer weiß, vielleicht wird dieser Lexikonartikel so oder so ähnlich eines Tages zu lesen sein. (Dank Wikipedia könnte das schon morgen der Fall sein - wenn so ein Eintrag nicht gar bereits besteht!). Das Land macht auf jeden Fall keinerlei Anstalten, nicht Anlass für die Prägung eines solchen Idioms zu geben. Selbst die jüngste Veröffentlichung eines alles andere als unverfänglichen (um nicht zu sagen: erdrückend beweislastigen) Gesprächsprotokolls zweier Hauptfiguren der Politposse "Der Finanzminister und Menschenfreund" blieb ohne Konsequenzen. Eh klar. Wahrscheinlich haben die Abgehörten die Aufnahmen selbst der Presse übergeben und wollen damit unmissverständlich klarmachen: Schaut her, l'état c'est nous! Wir können machen was wir wollen, wir stehen über dem Gesetz. Und ja, sie tun es.
Mir ist es sehr unangenehm, folgenden Satz zu schreiben: "Bei uns würde es so etwas nicht geben." Will ich bei der Wahrheit bleiben muss ich aber. Bei uns würde es so etwas nicht geben. Bei uns in Deutschland muss ein Politiker wegen respektlosen Verhaltens zurücktreten, wenn er durch sein dreckiges Brillenglas eine Synagoge anschaut, bei uns gehen die Menschen auf die Straße weil ein neuer Bahnhof den Abriss eines alten zur Folge hat, bei uns tritt eine beliebte, geschätzte und respektierte Bischöfin zurück, weil bemerkt wurde, dass sie nicht nur während des Abendmahls ein Glaserl Wein schätzt. (In Österreich wäre das möglicherweise der einzige Grund des Amtes enthoben zu werden - wenn man keinen über den Durst trinkt.) In Österreich dagegen gibt man nichts zu, in Österreich tritt man nicht zurück. Das ist eisernes Gesetz. Eine Frage der Ehre. Man wird herausgetragen (aus dem Büro und tot) oder herausgeschnitten (aus dem Autowrack, auch tot). Oder man geht nach Brüssel, wenn einen hier wirklich überhaupt keiner mehr leiden oder brauchen kann. Auf die Straße geht hier sicher auch niemand, wenn ihm etwas nicht passt. Hier geht man ins Wirts- oder Kaffeehaus. Danach passt es dann wieder. Zwar sudert und grantelt der gemeine Österreicher gerne über allerlei Missstände, doch im Aperol- und Veltlinerrausch legt sich der Unmut schnell. Derart chemiegestützt lässt sich auch dauerhaft verdrängen. Dennoch: Irgendwie läuft trotzdem alles. Wirtschaftlich gar besser als in Deutschland. (Was mich nicht, aber viele Österreicher wundert, wähnen Sie die BRD aufgrund einem Mehr an Disziplin und Professionalität in der Politik immer noch als Vorbild.) Ein Mysterium. Das mich trotzdem nicht zufrieden stimmt. Wie gut könnte es diesem Land denn gehen, wenn es nur ein bisschen weniger Korruption - oh pardon, "Fraänderlwirtschaft" - gäbe? Oder liegen gerade darin der Irrtum und das Geheimnis? Wäre womöglich alles schlechter? Sind die Dunkelnetzwerke das, was "die (Alpen)Welt im Innersten zusammen hält"? Sand im Getriebe und Schmiermittel zugleich? Ist jeder ein bisserl darin verwoben und alles gleicht sich so aus? Hat das jeder Österreicher begriffen und ist ihm deshalb wurschd, was "die da oben" machen? Oder ist doch der Kaiserreflex 'Obrigkeitstreue' schuld, der die Volksseele noch immer traumatisiert und jeglichen Widerstand paralysiert? Jeglichen Widerstand? Mag das symbiotische Amigosystem des "verschwägerten Don Corleone vom Magistrat" bisher noch funktioniert haben: Die Dimensionen der Gegenwart sind aus meiner Sicht der Gesundheit des Landes nicht mehr zuträglich. Eine so unverhohlene Bereicherung an der Substanz des Landes kenne ich nur aus Afrika oder dem Russland der Selbstbedienungszeit nach Gorbatschow. Hier passiert etwas Demokratiegefährdendes. Es wäre kein Wunder, wenn sich eines Tages doch etwas regt und die Bürger nach einem Putin schreien. Aber ob der sich dann nicht bereichern will? Bis es bewiesen ist, gilt auf jeden Fall die Unschuldsvermutung. (Peter Baumgarten)
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