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Ein deutsches Requiem 

Ernst meinen sie es, und sie wissen, dass sie es ernst meinen. Sie schaffen sich Raum für ihre Wahrheit - auch wenn sie vielleicht nicht politisch korrekt oder verwertbar ist. Matthias Glasner und Jürgen Vogel haben 5 Jahre mit sich und dem Thema gekämpft, und stellen jetzt ihren Prozess zur Verfügung.

Stammt der Name der Filmfigur „Theo“, Jürgen Vogel, vielleicht aus „Theo gegen den Rest der Welt“?! Wenn man den verschiedenen Protagonisten so durch die Straßen des Ruhrgebiets folgt, fühlt man sich manchmal an das ausgemergelte Gesicht von Marius Müller-Westernhagen erinnert. Das ist aber auch schon alles, was der Film mit dem speziellen Charme des Ruhrgebiet zu tun hat. Vielleicht noch der Sozialarbeiter, André Hennicke, der dem 'Sexualverbrecher in offenem Vollzug' den Tipp gibt für einen möglichst gewinnbringenden Umgang mit Frauen: „Mach dich zum Horst, und irgendwann klappt es schon.“

freiewille02Gruselig. Alles in allem ist der Film gruselig, grau, grausam. „Halt die Fresse oder ich bring dich um.“ Ist einer der ersten Sätze des Films. Im offiziellen Therapieangebot wäre: Tanztherapie, Theater, Keramik. Das kann es ja auch nicht sein. Oder? Deshalb: weiterschauen.

Sabine Timoteo hatte beim ersten Mal Lesen des Drehbuchs das Gefühl „der Autor möchte von etwas Sprechen, was auch mir wichtig ist.“ Trotzdem musste Sie sich vom Matthias Glasner durch diverse Telefongespräche überzeugen lassen die Rolle der „Nettie“ zu übernehmen. Sie dachte, ihr fehlt die Kraft „diese Figur zu verantworten.“ Sie hatte gerade erst „Gespenster“ von Christian Petzold abgedreht.

freiewille07Nettie ist ein Mädchen, das es endlich schafft ihren klagenden Vater, Manfred Zapatka, allein zu lassen. Er ist der Firmenbesitzer, der Theo, obwohl er als mehrfacher Vergewaltiger verurteilt wurde, einstellt, „weil er sich seiner Vorbildfunktion für andere Straftäter bewusst ist.“ Der Vater will seine Tochter weiterhin abhalten seine Tristesse zu verlassen: „Du hast doch nichts Anderes gelernt!“ Nettie lernt Theo durch Zufall im Kaufhaus kennen – er kommt ihr Vertrauenserweckend vor.

Der Film zeigt ein Deutschland, wo keiner einen Laut von sich geben darf. Wenn, dann sind es Menschengruppen, zu denen man nicht gehört. Da läuft eher der Fernseher, als das Menschen miteinander reden. Mann weint nachts in seinem Bett. Die Wohnungen sind farblos eingerichtet. Die innige Sexszene findet im Flur statt. Abends essen „ist nicht gut für den Körper und so.“ Der Busen ist nicht gut, weil er alt macht. „Ave Maria“ wird zur Hilfe gerufen. Die unbewusste Beschwörung einer Beziehung zu einem mütterlichen Wesen, das nie zur Frau werden muss – darf! Würde das den erhofften Frieden bringen? Hätte man dann die Eifersucht im Griff?!

freiewille12„Der Freie Wille“ hinterlässt ein Bild von kämpferischen Menschen, die sich ausgeschlossen fühlen. Allein gelassen verhalten sie sich als pure Konsumenten einer Welt von anderen Leuten. Ohne eigene Phantasie. Ohne Gemeinschaftsprozesse, die sie teilen könnten. Gefangen in ihrem Selbstmitleid, dass sie tatenlos zu sehen lässt, was sie tun. All das ist intensiv und sinnlich, und deshalb so gruselig. Die Schauspieler sind überzeugend und vielleicht für manchen ein Katalysator, um sich mit den eigenen zerstörerischen Grautönen zu konfrontieren, die wir in Abstufungen alle in uns haben. Und doch bleibt es ein Trip, den man nimmt - oder nicht. (Stephanie Lang)

freiewille_plakatVerleih:
Filmladen Wien

Filminfos:
Regie: Matthias Glasner. Drehbuch: Matthias Glasner, Judith Angerbauer, Jürgen Vogel. Kamera: Matthias Glasner. Schnitt: Mona Bräuer, Julia Wiedwald. Ton: Stefan Soltau. Ausstattung: Tom Hornig, Connie Kotte. Kostüm: Sabine Keller. Produktion: Colonia Media Filmproduktion, Schwarzweiß Filmproduktion, WDR. Produzenten: Frank Döhmann, Matthias Glaser, Christian Granderath, Jürgen Vogel. Mit: Jürgen Vogel, Sabine Timoteo, Manfred Zapatka, André Hennike, Judith Engel, Anna Brass, Anne-Kathrin Golinsky, May Bothe, Frank Wickermann, Anna de Carlo, u. a. Deutschland 2006, 136 Minuten, Farbe, 35 mm/1 : 1,66/Dolby SRD


Preise:

Silberner Bär für Jürgen Vogel für herausragende künstlerische Gesamtleistung als Schauspieler, Co-Autor und Co-Produzent.
Regiepreis der Gilde der deutschen Filmkunsttheater für Matthias Glasner.
Tribeca-Filmfestival 2006 - Bester Schauspieler Jürgen Vogel. 

Link-Tipp:
Interview mit Matthias Glasner