Abgelenkt von purer Oberflächlichkeit entzieht sich Hans Steinbichlers Film Ein ganzes Leben jeglicher Tiefe, während er auf visueller Ebene kläglich versucht, sich an Malick's A Hidden Life heranzutasten.
Ein ganzes Leben - die Filmkritik
Der Film basiert auf Robert Seethalers Roman "Ein ganzes Leben" und handelt von der sehr durchwachsenen Lebensgeschichte eines österreichischen Hilfsarbeiters, gespielt von Stefan Graski, während des 20. Jahrhunderts in einem Dorf in den Alpen. Der Protagonist Andreas Egger wird als kleines Kind, nach dem Tod seiner Mutter, in die Familie eines gottesfürchtigen Bauern aufgenommen, wo er vom Stiefvater gezüchtigt und gehasst, einzig als billige Hilfskraft wahrgenommen wird. Sobald er alt genug ist, verlässt er den Hof, wodurch sein Leben beginnt sich zu entfalten. Ein Schicksalschlag nach dem anderen scheint den jungen Mann jedoch einzuholen.
Der Film wird als Rückblick aus der Sicht des alten Egger erzählt, dessen Stimme den Bogen vom Beginn seines Lebens bis zu seinem Tod spannt.
Rollenbilder
Die gesamten 115 Minuten von Ein ganzes Leben lassen drei Frauenfiguren zu: die Zieh-Großmutter des jungen Egger, die Verlobte Marie und die einsame Lehrerin. Alleine die gerade gewählten Beschreibungen geben mehr Einblick in die Frauenfiguren als der Film es in seiner Länge zulässt. Ja, die Geschichte spielt im 20. Jahrhundert und ist an den Roman gebunden, trotzdem können, dürfen und müssen weibliche Charaktere in einer heutigen Verfilmung facettenreicher gezeigt werden!
Wie in einem Hitchcock Echo sterben zwei der drei weiblichen Figuren und die Dritte, abgewiesen von dem männlichen Protagonisten, muss ihren letzten Lebensabschnitt unglücklich und einsam antreten. Egger bildet in seinen unterschiedlichen Lebensphasen immer das Zentrum der Aufmerksamkeit der drei genannten weiblichen Charaktere, was in sich nicht nur aus einer feministischen Perspektive problematisch ist, sondern auch aus einer dramaturgischen, da der Film keine spannenden Charakterentwicklungen zulässt, sondern nur vorhersehbare Narrative anbietet und klischeehafte Darstellungen unterstützt. Intime Szenen sind von unangenehmen Aussagen geprägt, die so befremdlich und falsch verortet sind, dass sie jegliche emotionale Tiefe im Keim ersticken und die Frage nach Konsens aufwerfen.
Frauen werden entweder als Mutterfigur oder als potenzielle Partnerin herangezogen, jedoch haben sie abseits dieser zwei Rollen keinen Raum in Eggers ganzem Leben.
Stimme und Männlichkeit
Ein ganzes Leben ist mit "Männlichkeit" durchzogen. Stärke, Durchhaltevermögen, harte Arbeit und das Streben nach Unabhängigkeit wird als sehr maskulines Ideal gesetzt, dem ausschließlich männliche Figuren entgegengestellt werden. Dieses Ideal wird vom Protagonisten erfüllt, obwohl er selbst eher untypisch als zurückhaltender, ruhiger und loyaler Mann porträtiert wird, dessen Leben sogar sehr unter dem Ego des Stiefvaters, der Idee des Fortschritts und dem Krieg leidet. In der stockenden Stimme Eggers sehe ich den Versuch, sich von diesem veralteten Bild der Männlichkeit lösen zu wollen, jedoch scheitert dieses Stilmittel kläglich. Manchmal wird im Dialekt gesprochen, manchmal nicht, die Wahl scheint sehr willkürlich. Der Protagonist wirkt durch seine Stimme sehr plump und dümmlich, da er kaum die richtigen Worte findet, oder diese nur sehr stockend und unnatürlich einsetzt, vor allem in Beziehung zu den Frauen in seinem Leben. Auch die Erzählerstimme des alten Egger und die Figur der Marie ist mit diesem Problem behaftet und erinnert an ein Kleinkind, das seinen Worten nicht mächtig ist. Der Versuch, mit Sprache Tiefe zu schaffen, klatscht wie ein flacher Bauch aufs Wasser. Somit lässt das gewählte Stilmittel an der Wahl des Mediums Film zweifeln.
Kraft der Bilder
Die Bilder sind stark mit Naturelementen aufgeladen und versuchen sich an Terrence Malick's A Hidden Life heranzutasten. Auch wenn die Berge pompös und der Schnee schrill und überwältigend scheinen, werden die Einstellungen mit so viel Theatralik und Hollywood Score überladen, dass jegliches Feingespür der Bildsprache verloren geht. Die Zuseher:innen werden lediglich von der Audiovisualität überrannt, wodurch sich der Film und seine eventuell tiefere Bedeutung augenblicklich in sich selbst auflösen. Jedes Gefühl und jede abstrakte Regung zwingen sich, ausgesprochen zu werden und nehmen dem Medium seinen Möglichkeitsraum. //
Text: Lina Reisinger
Fotos: TOBIS
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