Kinoreal Grey Gardens; Foto: Filmmuseum Wien

Seit Herbst 2019 präsentiert das Filmmuseum zusammen mit dok.at, der Interessensgemeinschaft Österreichischer Dokumentarfilm, die Filmreihe Kinoreal.

Filmkritikerin Julia Polzer hat sich die ersten beiden Filme angeschaut und davor ein Gespräch mit Michael Loebenstein geführt, dem Direktor des Österreichischen Filmmuseums und Kurator der Filmreihe Kinoreal.

Was bedeutet Kinoreal?

In der aktuellen Kinoreal-Filmreihe geht es um verschiedene Ansätze künstlerischer Auseinandersetzung mit dokumentarischen Formaten. Jeden zweiten Montag im Monat wird dabei Halt gemacht an einer anderen Station in der Entwicklung und in der Gegenwart von Repräsentationen der Wirklichkeit.

Warum jetzt? - Weil wir dazu in der Lage sind! 

Kinoreal im Filmmuseum; hier Michael Loebenstein; Foto: Eszter KondorDas Filmmuseum möchte die aktuell sehr lebhafte Debatte und das Interesse rund um den Dokumentarfilm in Österreich aufgreifen und seine Türen - neben der Rezeption von Filmen - auch für Austausch und Diskussion öffnen. Basis für die ausgewählten Projektionen bildet dabei nicht zuletzt die eigene umfangreiche Sammlung des Filmmuseums, wobei der Fokus klar auf dem Autor*innen-Dokumentarfilm liegt.

Wie ist das konkret geplant?

Neben dem künstlerischen Qualitätskriterium der ausgewählten Filme möchte das Team des Filmmuseums über die Laufzeit eines Jahres ein gutes Geschlechterverhältnis schaffen, also bewusst mehr Filme von Regisseurinnen zeigen.
In Planung sind unter anderem Werke von Chris Makers (L’héritage de la chouette), Thomas Heise (Heimat ist ein Raum aus Zeit) oder der Schweizerin Jacqueline Veuve.

Und das Publikum?

Das Publikum soll dabei eine eigene Rolle spielen. Denn bei den gezeigten Filmen müssen sich auch Zuseher*innen die Frage stellen, was der Film in einer*einem selbst gerade auslöst.

Loebenstein betont des weiteren, dass es wichtig sei, das Gezeigte nicht nur zu rezipieren, sondern auch zu reflektieren. Er erwähnt dabei einen Denkimpuls, der im Folgenden auch bei den Sichtungen berücksichtigt wurde: Ist das, was Kamera und wir da betreiben Voyeurismus, "Exploitation" oder analytische Durchdringung?

Eine erste Reflektion

Am Montag, dem 9. September 2019, wurden zwei Filme gezeigt, die jeweils zwei Frauen und zwei Männer in den Fokus der Aufmerksamkeit stellen und zugleich die Aufmerksamkeit des Publikums herausfordern.

"Grey Gardens" von den Maysles-Brüdern, ein Klassiker des US-amerikanischen Direct Cinemas, zeigt Mutter und Tochter als Teil einer einst privilegierten Familie. Dabei ist zu betonen: Der Film beobachtet, er erklärt nicht.

Die unterschiedlichen Ebenen an Authentizität - Originalbild, Originalsound, Sichtbarkeit der Filmcrew - schaffen eine sehr intime Atmosphäre, die den Eindruck erweckt, mit den Protagonistinnen unmittelbar in einem Raum zu sein. Und man bewegt sich auch nicht heraus, denn der Film bleibt über 95 Minuten lang bei und im Anwesen der Protagonistinnen auf Long Island.
Das macht etwas mit dem eigenen Blick. Denn irgendwann ist es sogar ein bisschen unangenehm, weil sich diese Intimität fast schon als Übergriff auf die Privatsphäre der Frauen anfühlt.

Die Melancholie der Millionäre

Kinoreal Die Melancholie der Millionäre; Foto: Filmmuseum WienEtwas distanzierter war hingegen die Filmerfahrung bei Caspar Pfandlers "Die Melancholie der Millionäre". Ein Film über Dr. H. und Herrn B., einen Millionär und seinen Vertrauten.

Der Film ist authentisch wegen seiner durchwegs rohen Schnittweise und den langen Intervieweinstellungen, die keinen Ausweg lassen, als sich in die Situation hineinzufühlen und ihrer Teil zu werden.

Im direkten Vergleich zu "Grey Gardens" fällt es etwas einfacher, den analytischen Blick beizubehalten. Denn das, was der Film vermittelt, wird allein über die geschilderten Lebensgeschichten der Protagonisten in die Kamera erzählt. Über 82 Minuten hört das Publikum ihren Erzählungen zu.

Doch Filmemacher Caspar Pfaundler dringt hinter der Kamera in ihre Geschichte ein, stellt Fragen und kritisiert das Gesagte. Eine Entscheidung, die er bewusst auch in den Film mit aufnimmt, als kritische Stimme, die die erzählte Wirklichkeit infrage stellt.

Die Wirklichkeit hinterfragen - Ein Ausblick

Das ist es also, was wichtig ist: Im Filmmuseum soll der kritische Blick geschärft sein, wenn man sich im kommenden Jahr mit der Wirklichkeit und ihrer Repräsentation auseinandersetzt. - Eine Maßnahme, die in der heutigen Zeit auch im Alltag unverzichtbar zu sein scheint. //

Interview und Text: Julia Polzer
Fotos: Eszter Kondor, Österreichisches Filmmuseum

Raum für kritische Stimmen und Diskussionen bietet das Filmmuseum an den kommenden Terminen:

20. Oktober 2019, 17 Uhr

Kinoreal: L'Héritage de la chouette (Das Erbe der Eule)

Regie: Chris Marker
Drehbuch: Chris Marker, Jean-Claude Carrière
Erzähler: André Dussollier
1987–89, 338 min.
Französisch mit engl. UT

21. + 22. November 2019

Kinoreal: Gerhard Friedl: Buchpräsentation und Filme
Buchpräsentation und Lesung. "Gerhard Friedl. Ein Arbeitsbuch" (21.11., 18.30 Uhr)
MdW 1992 / AVID 1994 / Knittelfeld - Stadt ohne Geschichte 1997 (21.11., 20.30 Uhr)
The »Frontier« Owners 2008 / Shedding Details 2009 (22.11., 18.30 Uhr)
Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?, 2004 (22.11., 20.30 Uhr)

9. Dezember 2019

Kinoreal: Heimat ist ein Raum aus Zeit

Regie und Drehbuch: Thomas Heise
Kamera: Stefan Neuberger
Schnitt: Chris Wright
2019, 218 min.