Über den Spielfilm "Aufbruch" von Ludwig Wüst, der bei der Diagonale 2018 seine österreichische Erstaufführung feierte.

Manchmal kommt es zu Begegnungen mit Fremden, in denen sich augenblicklich ein tiefes gegenseitiges Verständnis herausstellt, das sich mit anderen auch nach Jahren des Wortwechsels nicht einzustellen vermag. Diese Begegnungen sind oft die intensivsten und intimsten Momente zwischenmenschlicher Verbundenheit - mit oder ohne freundschaftlicher oder amouröser Komponente. Sie sind getragen von einer Seelenverwandtschaft. Einem tiefen Verständnis des Anderen und für den Anderen.

Zwei Verzweifelte treffen sich

Eine solche Begegnung ist der Gegenstand von Ludwig Wüsts Film "Aufbruch". Zwei Verzweifelte treffen auf einer einsamen Landstraße in einer spätherbstlichen Landschaft aufeinander. Sie (Claudia Martini) sitzt auf einer Bank und schreibt in einem Gedichtband ihre Übersetzung über die Zeilen eines russischen Gedichtes. "Das ist das, was ein Herz einem anderem in einem wortlosen Gruß sagen kann". Daraufhin nickt sie ein, der Bleistift fällt zu Boden. Ob sie eingeschlafen oder gestorben ist, wissen wir nicht. Er (Ludwig Wüst) kommt in einem mopedähnlichen Kleinauto vorbei, hebt den Bleistift auf, tippt sie an. Sie erwacht und bittet ihn, sie mitzunehmen. Er nimmt sie mit. Wir wissen nicht, wohin sie gehen. Wir wissen wenig über die genauen Umstände. Aber wir spüren, dass sich ihre Verzweiflung nicht auf eine simple Ursache wie Geldnot oder eine oberflächliche Sinnkrise reduzieren ließe. Ihre Verzweiflung ist eine seelische und eine fundamentale. Ihre Begegnung steht im Spannungsfeld von Abschluss und Aufbruch. Auf dieser Ebene treffen sich die beiden, auf dieser Ebene hat die Begegnung Bedeutung und Konsequenzen für beide.

Reduktion. Weniger ist mehr.

Die gemeinsame Fahrt, auf die sich die beiden begeben, führt sie zu mehreren Stationen in einer tristen, dünn besiedelten Großstadtperipherie, deren Bedeutsamkeit man stets spürt, auch wenn sie nicht immer explizit gemacht wird. Sie reden nicht viel und führen oft elementare Handlungen aus. Er bearbeitet ein halb fertiges Holzkreuz zu Ende, sie essen Äpfel, machen ein kleines Feuer. Die Handlung ist reduziert, der Erzählstil ruhig und langsam. Der Film setzt weder auf schnell wechselnde Handlungsabfolgen noch auf spektakulär inszenierte Action, Gewalt, Erotik oder ähnliches. Die Kamera nimmt sich die Zeit, die Orte und die darin vollzogenen Handlungen in allen ihren Details zu entfalten. Die Verknüpfung der einzelnen Szenen erfolgt vor allem über die emotionale Bedeutung, die mal mehr und mal weniger explizit gemacht wird, aber stets spürbar ist. "Aufbruch" vertraut auf die Kraft der Bilder. Nichts in dem Film ist zufällig. Wer sich darauf einlässt, kann einen wortlosen Gruß hören. //

Text: Valentin Badura
Fotos: Klemens Koscher / AAC
Diese Filmkritik entstand beim Workshop "Filmkritiken schreiben" im Rahmen der Diagonale 2018 unter der Leitung von Manfred Horak (Kulturwoche.at) in Kooperation mit Diagonale - Festival des österreichischen Films, Kleine Zeitung und Radio Helsinki. Bei Radio Helsinki entstand mit der Moderatorin Irene Meinitzer auch nachfolgende 60-minütige Live-Sendung.

Film-Info:
Aufbruch
Bewertung: @@@@@
Spielfilm, AT 2018, 102 min, OmeU
Regie und Buch: Ludwig Wüst
Darsteller/innen: Claudia Martini, Ludwig Wüst
Kamera: Klemens Koscher
Schnitt: Samuel Käppeli
Originalton: Tjandra Warsosumarto
Musik: Andreas Dauböck
Sounddesign: Tjandra Warsosumarto, Bernhard Maisch
Produzent/innen: Maja Savic, Ludwig Wüst
Produktion: film-pla.net