"Murer - Anatomie eines Prozesses" ist einer der besten österreichischen Filme der letzten Jahre und wurde, wenig überraschend, zunächst mit dem Großen Diagonale-Preis 2018 und aktuell mit dem Österreichischen Filmpreis 2019 ausgezeichnet.
Unter der Regie und dem Drehbuch von Christian Frosch entstand zudem einer der - nicht sehr zahlreichen - gelungenen künstlerischen Annäherungen an das Thema der NS-Zeit in Österreich. Doch es deckt sich die intelligente, inhaltliche Konzeption des "Murer"-Films mit einer formalen Brillanz. Der Film ist sehr montagesicher inszeniert. Unverzichtbar ist die Montage für die Interaktion, die sie mit der schauspielerischen Glanzleistung von Alexander E. Fennon als Rechtsanwalt Böck eingeht. Regisseur Frosch versucht formale Manierismen zu vermeiden - doch unvermeidlich wirken sie in der Szene, in der, wie in den Filmen Samuel Fullers ein ventilator-shot vor dem Plädoyer des Rechtsanwalts das Gericht von oben aufgenommen zeigt. Ein Stilmittel, das sich besonders für Gerichtssaalszenen mit beklemmendem Effekt eignet und hier verwendet wird, ist das der Tiefenschärfe, bei der eine Person in Umrissen im Vordergrund steht, die andere im Mittelpunkt der Kameraeinstellung.
Doch die größte Leistung von Regisseur Frosch ist das "Dirigieren" eines solch verschiedenen, nuancenreichen, internationalen Ensembles. Der Vorwurf des Historikers Saul Friedländer, dass Figuren in Kunstwerken über die NS-Zeit nicht wie real, sondern wie aus "Pappe" wären, trifft hier nicht zu. Die Darsteller der Überlebenden des Wilnaer Ghettos wirken nicht wie Filmfiguren oder Statisten, sondern sind als Einzelschicksale gezeichnet. Ein schwierigerer Fall ist schon Murer selbst. Freilich, soweit stimmt Friedländers These, dass sich der Murer des Wilnaer Ghettos in seiner hemmungslosen Grausamkeit künstlerisch nicht erfassen lässt. Doch der Murer des Prozesses wird von Karl Fischer im Sinne der "Banalität des Bösen" (Hannah Arendt) verkörpert - als nach 1945 nun banaler Mensch voller Ängste, Sorgen und Feigheit.
Verschränkung von Politik und Justiz
Nicht ganz so gelungen wie die Gerichtsszenen sind die für die Authentizität natürlich höchst wichtigen Szenen, in denen die Verschränkung von österreichischer Innenpolitik und dem Prozess Murer gezeigt wird. Gerade die aufklärerische Absicht verpufft, wenn kaum je die Funktion und die Namen von ÖVP-Bauernbundpräsident Wallner und SPÖ-Justizminister Broda genannt werden. Auch vermittelt der Darsteller Robert Reinagl des Ministers kaum die starke Persönlichkeit, die Broda sicher war. Franz Buchrieser, für Rollen knorriger Typen bekannt, vermittelt hier schon einen kraftvolleren Eindruck. Buchrieser ist vielleicht der älteste der österreichischen Schauspieler dieses Ensembles. Er ist bekanntlich Grazer. Er war ursprünglich Bühnenautor. Und wenige Jahre vor dem Murer-Prozess erschien von ihm das Stück "Hanserl" (S. Fischer, 1959), in dem ein Sohn mit seinem Nazi-Vater den Generationskonflikt austrägt. So wie in "Murer - Anatomie eines Prozesses" entkommt man auch dort nicht den antisemitischen Phrasen im steirischen Dialekt. //
Text: Bernhard Valentinitsch
Fotos: Patricia Peribanez/ Prisma Film
Diese Filmkritik entstand beim Workshop "Filmkritiken schreiben" im Rahmen der Diagonale 2018 unter der Leitung von Manfred Horak (Kulturwoche.at) in Kooperation mit Diagonale - Festival des österreichischen Films, Kleine Zeitung und Radio Helsinki. Bei Radio Helsinki entstand mit der Moderatorin Irene Meinitzer auch nachfolgende 60-minütige Live-Sendung .
Film-Infos:
Murer - Anatomie eines Prozesses
Bewertung: @@@@@@
Spielfilm, AT/LU 2018, 137 min.
Produktion: Prisma Film- und Fernsehproduktion GmbH
Wiener Filmpreis 2019
Regie und Buch: Christian Frosch
Darsteller/innen: Karl Fischer, Alexander E. Fennon, Karl Markovics, Roland Jaeger, Melita Jurisic, Ursula Ofner, Dov Glickman, Inge Maux, Mathias Forberg
Kamera: Frank Amann (bvk)
Schnitt: Karin Hammer
Originalton: Gregor Kienel
Musik: Anselme Pau
Sounddesign: Angelo Dos Santos
Szenenbild: Katharina Wöppermann
Kostüm: Alfred Mayerhofer