mit den Schlagworten:

unterderhaut001Der Eröffnungsfilm der 50. Solothurner Filmtage "Unter der Haut" der jungen Filmemacherin Claudia Lorenz zeigt eine einfühlsame Auseinandersetzung mit den Wirrnissen um Sexualität und Liebe innerhalb einer Familie. Von Andrea Schramek.

Alice und Frank ziehen mit ihren drei Kindern in ein neues Haus. Ein Karton und eine Matratze werden ins Schlafzimmer getragen. Langsam füllt sich das Haus mit Leben und der Alltag einer Familie beginnt sich wieder einzustellen: Frank tobt mit seiner kleinen Tochter Sophie und spielt mit seinem Sohn Gitarre - kurz, wir sehen eine Familien-Idylle.

Mit einem Granatapfel, den Frank eines Tages wie eine wunderschöne, sinnliche Frucht aus einem verbotenen, fernen Land, mit nach Hause bringt, scheint sich dieser langsam zu verändern, unleidlich zu werden und sich von Alice zurückzuziehen. Als Alice im Internet den Schiurlaub für die Familie buchen möchte, entdeckt sie zufällig Dating-Seiten für Schwule, die jemand in der Familie angesehen haben musste. Zunächst vermutet sie, es wäre ihr jugendlicher Sohn gewesen, der vielleicht noch auf der Suche nach seiner sexuellen Identität ist und sie hat keine Scheu, ihn danach zu fragen.

Als Frank schließlich gesteht, dass er es gewesen war, ist Alice zwar irritiert, aber noch nicht alarmiert. Sie versucht zu verstehen. "Was gefällt dir an einem Mann? Bleibt das Phantasie - oder wird das mehr?" Fragen, auf die Frank nur zögerlich oder gar nicht antworten kann. Alice, die sogar für einen "Dreier" bereit gewesen wäre, um Frank diese Erfahrung zu ermöglichen, rastet erst aus, als Frank gesteht, dass er tatsächlich jemanden kennen gelernt und sich verliebt hat.

Es folgen die ersten Abende, an denen Frank später heim kommt und Alice unter der Situation zu leiden beginnt. Der archetypische Verlauf einer Dreiecks-Geschichte entspinnt sich, in deren Zentrum der Schmerz und das Leiden der verlassenen Frau stehen, um das Frank in seiner Zerrissenheit zwischen der vertrauten Liebe zu Alice und seinen Kindern - und seiner neuen, leidenschaftlichen Liebe zu Pablo kreist. Einziger Unterschied zu einer "klassischen" Dreiecksbeziehung ist vielleicht die Frage, die Alice, schon fast klischeehaft, nach der "Gesundheit" von Franks Partner stellt.

Innerhalb des Hauses, denn es gibt kaum Außenaufnahmen, lässt Regisseurin Claudia Lorenz den Zuschauer sinnlich und körperlich nahe an die Haut der Figuren heran, so, z.B. als Alice versucht, Frank zu verführen oder wenn Frank von Pablo im Wald leidenschaftlich mitgerissen wird. Neben den Eltern sehen wir die drei Kinder: Die kleine Sophie, die nicht versteht, was passiert und die vor allem, vielleicht erstmals mit einem noch existenzielleren Thema, nämlich mit dem Tod ihres Meerschweinchens, beschäftigt ist. Die etwa 13-jährige Tochter, Nina, hingegen, erlebt eine erste, auch sexuelle, Liebe - während den, eher zurückgezogenen, jugendlichen Luca, die Homosexualität seines Vaters mit Wut und Ekel erfüllt.

Nachdem Frank das gemeinsame Zuhause verlassen hat, um mit Pablo zu leben, lässt sich Alice gehen, bleibt im Bett und trinkt, bis schließlich die Kinder die Verantwortung und Mentoren-Funktion für die Mutter übernehmen und sie aus der Depression reißen. Humor und Lachen mit den Kindern öffnen für sie das Fenster zu einem Neubeginn, der durch die Neugestaltung des Schlafzimmers und die Wiederentdeckung ihrer eigenen Sexualität bekräftigt wird. Letztere sogar in Form eines Blind-Dates mit einem verheirateten Mann auszuleben, gibt ihr neues Selbstbewusstsein - und ermöglicht letztendlich eine friedliche, respektvolle, freundschaftliche Annäherung mit Frank.

Während die wenigen Dialoge die folgerichtige Konsequenz des eingetretenen Schweigens innerhalb der langjährigen Partnerschaft sind, so versuchen die sinnlichen Bilder in vielen Nahaufnahmen die Frage nach Nähe und Anziehung, nach der treibenden und zerstörenden Kraft der Sexualität im Rahmen dieser Familie bis fast "unter die Haut" zu verfolgen.

Eine hochkarätige Besetzung sorgt für Glaubwürdigkeit der Figuren. Wunderbar Ursina Lardi (u.a. Schweizer Filmpreis 2014) als gebrochene und doch starke Alice und der, ebenfalls bereits mehrfach ausgezeichnete, Dominique Jann als zerrissener, wortkarger Frank, sowie Antonio Buil als für Alice fremd und unverständlich bleibender Pablo. Produzentin Elena Pedrazzoli hat zu Recht an diesen Stoff, dessen Entwicklung sich über sechs Jahre zog, und an die Filmemacherin, geglaubt. Dieser erste Langspielfilm von Claudia Lorenz, die einen langen Atem für die Entwicklung guter Geschichten, Bilder für Gefühle und Zeit für intensive Proben mit ihren Schauspielern hat, lässt auf weitere Spielfilme hoffen. (Text: Andrea Schramek; Filmbilder: Solothurner Filmtage)

unterderhaut002
Kurz-Infos:

Unter der Haut
C'estencorenous
Regie: Claudia Lorenz
Schweiz, 94 Minuten
Weltpremiere am 22.1. 2015
50. Solothurner Filmtage