Mit dem Jugendfilm "Blindgänger" gewann Bernd Sahling 2004 den Deutschen Filmpreis, mit "Ednas Tag" (2009) realisierte er einen Film zum Thema Integration und zuletzt mit "Kopfüber" (2013) widmete sich Sahling dem Thema ADHS. Anne Aschenbrenner und Manfred Horak trafen den Regisseur in Wien zu einem ausführlichen Gespräch.
Vorab, was hinter dem Kürzel ADHS steckt: Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine bereits im Kindesalter beginnende psychische Störung, die sich durch Probleme mit der Aufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität äußert. Schätzungsweise 3 bis 10 % aller Kinder zeigen Symptome im Sinne einer ADHS. ADHS gilt laut Wikipedia als häufigste Verhaltensstörung bei Kindern und Jugendlichen. Alternative Begriffe: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom bzw. Hyperkinetische Störung (HKS).
Kulturwoche.at: "Kopfüber" ist ein Film über einen verhaltensauffälligen Buben mit Lernschwierigkeiten. Der Film erweckt den Eindruck, ADHS wäre an eine bestimmte Schicht gebunden. Ist das so?
Bernd Sahling: Ja und nein. Kinder und die Probleme von Kindern sind immer in Zusammenhang mit ihrem sozialen Milieu zu sehen. Es hat einen großen Einfluss auf die Kinder, ob ein Vater da ist, ob nur eine Mutter da ist, und wenn die sich um alles alleine kümmern muss, dann hat sie weniger Zeit. So kommt ein Baustein zum anderen. Und wenn der Junge dann noch die Veranlagung hat, dass er sich schwerer konzentrieren kann, dann hat er ein zusätzliches Problem.
Die Mutter im Film holt sich Hilfe, sie geht zum Jugendamt...
Ich finde das total mutig, dass die das macht. Die meisten Eltern haben nicht den Mut Hilfe zu holen und zu sagen: "Hey Leute ich kann nicht mehr, ich verliere meinen Sohn."
In "Kopfüber" gibt es eine Szene, in der ein Bauarbeiter zu den Kindern sagt: "Macht, dass ihr wegkommt." Leben wir in einer Gesellschaft, die Kindern noch genügend Raum bieten kann?
Ich habe das Gefühl, dass Kinder in unserer Gesellschaft, in unserem Bewusstsein, noch eine zu geringe Rolle spielen, in ihren Bedürfnissen, in ihrem Leben. Dass wir da noch nicht genau hingucken, was die Filmwelt betrifft und dass wir es auch noch nicht gut genug publizieren, in dem Sinn, dass... - zum Beispiel: In Deutschland läuft nie um 20.15 Uhr ein Film der aus Kindersicht erzählt wird. Ich kann mich nicht erinnern, dass das in der letzten Zeit irgendwann passiert wäre. Da haben wir echt Nachholbedarf.
Ich hätte auch eher gedacht, dass "Kopfüber" ein Film für Erwachsene ist...
Das würde ich mir auch wünschen, dass das so gesehen wird. Auch von den Sendern. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein Film wie "Kopfüber" in Deutschland um 20.15 Uhr gezeigt wird, ist gering. Die Niederländer sind da schon weiter und die haben den Film auch schon gekauft.
Kinderkultur als Randthema; ist das ein generelles Problem?
Das ist generell so, auch im Kino: da ist ein Film ein Kinderfilm, der hat dann den Stempel Kinderfilm. Und doch ist es genauso ein Film für deren Eltern. Aber es ist ganz schwer zu platzieren. Eine Geschichte aus der Sicht eines Kindes erzählt, wer soll denn da reingehen? Aber, warum denn eigentlich nicht? Es gibt eigentlich keine Argumente dafür. Dass es keine Erwachsenen gibt, die sich für die Sicht aus den Augen eines Kindes interessierten, daran glaub ich nicht. Aber es gibt diese Tradition, diese Kultur, dass sich Erwachsene dafür nicht interessieren sollen. Und das finde ich doof. Ich gehe ziemlich aggressiv auch dagegen vor, gegen dieses Kategorisieren. Ich finde, Filme können mehrere Zielgruppen haben, und man sollte ihnen auch diese Chance geben. Doch die haben die oft gar nicht...
"Kopfüber" spielt in einer Kleinstadt...
Ich fand es spannend, den Film in einer Kleinstadt zu zeigen, wo die Natur noch relativ nah ist, wo wir erzählen können wie die Kinder in der Natur sind. Da hat ja der Sascha, die Hauptfigur, gar kein Problem. In der Natur, da haben die Kinder nicht diese Schwierigkeiten, das habe ich als Sozialarbeiter oft festgestellt. In der Natur, da war mein Junge immer der King.
Das wäre auch gleich meine nächste Frage: Viele sagen, ADHS wird am Land weniger diagnostiziert, das muss ja nicht nur daran liegen, dass keine Ärzte da sind, die das diagnostizieren...
Pauschalisieren möchte ich nichts. Aber natürlich ist das Landleben einfach mehr kindgerecht als die Reizüberflutung in der Stadt. Ich selbst möchte für meinen Teil gar nicht mehr in der Großstadt leben. Ich bin immer wieder fasziniert, wenn ich in große Städte komme, so wie jetzt in Wien, und ich kann das gut nachvollziehen. Eine gewisse Überforderung, die zeige ich auch in dem Film. Uns wurde gesagt, so wie wir den Film erzählt haben, so ist er nichts für Kinder. Er ist viel zu langsam, viel zu viele zu langsame Schnitte, viel zu wenig Musik.
Auch mir ist es beim Schauen aufgefallen, dass manche Einstellungen so lang sind, dass man zum Nachdenken anfängt.
Die Frage für mich ist schon zu Beginn gewesen: Sollen wir immer noch schnellere, noch radikalere Schnitte machen, oder sollen wir eine Alternative bieten? Und dann ist etwas Spannendes passiert, dass mir Kinobetreiber und Medienpädagogen sagen: "Das glaubst du nicht. Da sitzen Förderklassen drinnen, die bleiben von Anfang bis Ende im Film sitzen, die gehen in der Mitte nicht mal aufs Klo." Die sind fasziniert, was sie da entdecken können und haben auch die Zeit Dinge zu finden, die sie aus ihrem eigenen Leben kennen. Am Ende wollen sie aber dann auch eine halbe Stunde drüber reden... - Also es geht schon, dass man wieder langsamer und konzentrierter damit umgeht.
Dein Film basiert auf einer wahren Geschichte. Du selbst hast als Sozialarbeiter gearbeitet. Regisseur und Sozialarbeiter - wie kommt das zusammen?
Ich habe in den 1980er Jahren studiert. Ich habe in Ostdeutschland studiert. Und es war so, ich habe in die Wende hinein studiert. Und da war der Wunsch, noch einmal wegzugehen für ein Jahr. Um die Sprache zu lernen, dem Elend der Wende zu entkommen, Abstand zu kriegen. Da bin ich dann für ein Jahr nach Amerika gegangen und ich habe mir nicht gedacht, dass es so schwer ist, wenn man wiederkommt, Fuß zu fassen und wieder Geld zu verdienen. Ich war völlig pleite nach dem Jahr und Geld mit Film, das tat sich schwer. Und da hat mir ein Freund gesagt, geh doch zum Jugendamt, die suchen dringend Männer. Und die hatten viele Jungs, die gerade nach der Wende nicht klarkommen mit dem Leben, weil die Eltern nicht mehr klarkommen mit dem Leben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die mich nehmen, aber ich bin da hin und da sagen die zu mir: "Ja, das ist ja toll, dass Sie sich freiwillig melden, wir brauchen dringend Hilfe!" Und dann hatte ich zuerst einen Jungen, da konnte man nicht viel machen, der musste ins Heim nach ein paar Monaten. Dann habe ich einen zweiten Jungen bekommen, den habe ich sehr, sehr lange betreut, also länger als der Film das eigentlich zeigt, fast zwei Jahre, glaube ich. Und das ist die Basis der Filmgeschichte gewesen. Danach habe ich aber nie wieder Sozialarbeit gemacht, dann lief es wieder besser mit dem Film und ich habe auch eine andere Möglichkeit gefunden mit Film zu arbeiten und Geld zu verdienen, nämlich Workshops zu machen, wo ich Kindern helfe, die ihren eigenen Film drehen wollen.
Der erste Film den du gemacht hast, Blindgänger, auch hier geht es...
...da geht es um die Geschichte der ersten Liebe einer blinden Internatsschülerin.
Im Mittelpunkt deiner Filme stehen Kinder oder heranwachsende Menschen, die Probleme in der Gesellschaft haben. Waren diese Erlebnisse für dich der Antrieb Filme zu machen?
Rückblickend ja. In dem Moment wo ich es gemacht habe, nein. Die Dinge sind mir passiert. Genau wie mit dem blinden Mädchen. Ich kannte eine Familie mit einem Mädchen, das von Geburt an blind war. Und das war mein erster dokumentarischer Kinderfilm, wie dieses Mädchen in Berlin 1983 mit seiner Welt zu Recht kommt. Und so hat sich das ergeben, dass ich ein Thema hatte und letzten Endes einen Spielfilm daraus machte. So war es dann bei "Kopfüber" auch.
Die Ärztin in "Kopfüber" sagt zu Sascha: "Dass du nicht Lesen und Schreiben kannst, hat mit einer Krankheit zu tun." Ist das nicht ein Abschieben von Verantwortung, wenn man das so kommuniziert? Eine willkommene Entschuldigung?
Naja, für uns, in dem Fall damals, da war das eine große Erleichterung. Dass endlich mal jemand kommt und sagt, du kannst nichts dafür.
Für den einzelnen mag es eine Erleichterung sein. Ist es aber nicht auch so, dass die Diagnose ADHS eine Gesellschaft von ihrer Verantwortung entbindet? Dass man sagt, das ist kein gesellschaftliches Problem, das ist nur eine Gruppe von Kindern, die sind eben krank?
Natürlich ist das ein gesellschaftliches Problem. Ich glaube aber, dass wir doch etwas haben wollen, wo es benannt wird. Jedermann will das, dass man weiß, das ist ADHS und dagegen muss man vorgehen, da gibt es sogar ein Medikament. Für den Jungen damals war es eine Erleichterung, auch das Medikament. Und das wollte ich mit der Szene, mit dem ersten Mal Pillen nehmen im Film erzählen, wenn er in sich hinein hört, ob sich das Leben jetzt verändert, dass das ein großer Moment ist. Deshalb habe ich das auch so lange lassen. Dass das auch den Nebeneffekt hat, dass sich andere zurückziehen können, ah, ADHS, alles klar, endlich wissen wir es. Und dabei wird vergessen, dass die Mutter vielleicht zu wenig Zeit hat, dass der Sozialarbeiter nicht alles richtig macht, dass vielleicht in der Schule was verkehrt läuft. Das hat ja alles genauso Einfluss, wie die Therapien.
Vielen Kindern, die sich nicht angepasst verhalten, werden sehr rasch Medikamente verschrieben. Ich habe schon Kinder beobachtet, die unter dem Einfluss von Ritalin standen - das ist ja unheimlich, unnatürlich...
Die Pillen, dass das im Wesen so eine Veränderung passiert, das habe ich damals bei "meinem" Jungen nicht geahnt und das hat man dann erst gesehen, das hat mich auch sehr verschreckt. Gleichzeitig waren wir aber sehr glücklich, dass es mit dem Medikament die Gelegenheit bekommen hat, Lesen und Schreiben zu lernen. Ohne Lesen und Schreiben hast du keine Chance, das ist ja eine gefährliche Situation für deine Zukunft. Verbunden mit dem Unglück, dass das, was ich an dem Jungen am meisten mochte, dass der so ein Wirbel war, und so viele Ideen hatte, und so witzig war, das hab ich dann sehr vermisst.
Kein Platz für Querulanten?
Das Gefühl, dass Eigensinn und Querulantentum nicht gerade belohnt wird in unserer Gesellschaft, das habe ich schon, und ich war auch nicht glücklich mit dem Ergebnis: ich hatte das ja zu verantworten als Sozialarbeiter. Ich war dann in der Supervision und habe gesagt: "Wissen Sie was? Ich habe das Gefühl, ich nehme dem Jungen, etwas ganz Wichtiges von seiner Kindheit weg: die Leichtigkeit, den Spaß, das Kind sein." Die Antwort, die ich bekommen habe, war: "Was ist denn die Alternative? Dass der Junge weiterhin überhaupt nicht Lesen und Schreiben lernt, dass er später keine Lehrstelle findet? Ein Außenseiter wird? Ein Hartz IV Empfänger? Ist das die Alternative, die Sie anstreben?" Das war die Frage der Dame, die die Supervision geleitet hat. Und das ist eine Frage, die ich mir heute noch immer stelle.
Und trotzdem, ist das nicht ein Gleichmachen von Kindern?
Das ist eine interessante Frage: Leben wir in einer Welt, in der Kinder unterschiedlich sind und unterschiedliche Wege gehen oder möchten wir, dass sie sich möglichst ähnlich sind und in der Schule auf dem gleichen Level sind? Diese Frage kann ich auch gar nicht beantworten, aber ich wollte sie mit meinem Film aufwerfen.
ADHS als Phänomen der Gegenwart oder gab es das schon in den 1960er Jahren?
Es gibt Statistiken, dass die Diagnosen zugenommen haben. Das ist ein Fakt.
Worin siehst du die Unterschiede vom Kind sein deiner Generation und heute?
Ich bin in meiner Kindheit viel draußen gewesen und habe Fußball gespielt. Das findet heute ja nur mehr bedingt statt. Ein Therapeut hat einmal gesagt, natürlich verschreibe ich Medikamente gegen ADHS. Aber ich verschreibe auch den Sport. Beim Sport werden ähnliche Stoffe vom Körper produziert, wie sie auch im Medikament zu finden sind, dazu gibt es auch noch eine soziale Kompetenz. Und dann gibt es noch andere Dinge: ich habe als Kind nicht stundenlang am Computer gespielt, ich habe nicht stundenlang mein Handy an meinen Kopf gehalten - wo wir ja heute gar nicht wissen wie das wirkt. Und ich habe auch nicht so schnelle Filme geguckt, wo man gar nicht mehr weiß wo die Geschichte ist, wo ich mich nicht darauf konzentrieren kann, was mich berührt, sondern, wo ich mit vielen Effekten bombardiert werde, solange, bis ich mich verliere. Das alles in der Summe ergibt etwas, wo wir nicht wissen was es in den Kindern bewirkt und wie sich das für die Zukunft auswirkt.
Lösungsvorschläge?
Ich bin durchaus der Meinung, dass es da eine Gegenbewegung geben muss, in den Dingen, die wir Kindern anbieten. Und ich bin überzeugt, dass es organisiert angegangen werden muss, wie beim Kinderfilmfestival. Filme wie "Kopfüber", die funktionieren nur betreut. Dass das alles im Sinne eines freien Marktes funktionieren kann, das glaube ich nicht. Unser Film wird nicht einmal das Geld einspielen, das er gekostet hat, was uns auch oft vorgehalten wird. Trotzdem bin ich überzeugt, dass sich unsere Gesellschaft zunehmend solche Alternativen für Kinder leisten muss. Zunehmend, weil wir glauben, die sind wichtig für sie. Weil sie sie dazu bringen, auf Dinge zu führen, die fürs Leben wichtig sind. Weil sie sie dazu bringen, sich mit den eigenen Konflikten auseinander zu setzen, sich mit Sport zu beschäftigen, sich mit Kultur zu beschäftigen, sich mit sozialen Beziehungen zu beschäftigen. Mit all diesen Dingen, die die aktuellen Entertainment-Formate nicht mehr bedienen.
Das alles kostet Geld. Bei Bildung, bei Kultur wird gerne gespart...
Der Sparwahn... - da wäre ich ganz vorsichtig, bei solchen Dingen zu sparen. Die Floskel "zu teuer" steht in keiner Relation zu Dingen, die tagtäglich ausgegeben werden, beispielsweise für die Truppen in Afghanistan. Okay, ich komme aus dem Osten, ich bin ein Linker und ich glaube, dass unser System da gewisse Macken hat. Aber überall sollte es doch gewisse Anstandsregeln geben. Sparen ist lächerlich für reiche Gesellschaften wie unsere. //
Das Interview mit Bernd Sahling führte Anne Aschenbrenner und Manfred Horak im Rahmen vom Internationalen Kinderfilmfestival 2013 in Wien. Für die Verschriftlichung sorgte Anne Aschenbrenner. Die Fotos sind von Manfred Horak und könnten etwas besser sein. Aber sicher.
Link-Tipp:
Kopfüber (Filmkritik)