Ein liebenswürdiger Kinofilm von Mike Leigh über das Leben und das gemeinsame Alt werden, Toleranz und Liebe und vor allem der Wichtigkeit von Freundschaften.
"Another Year", der neue Kinofilm von Regisseur Mike Leigh begleitet das Ehepaar Gerri (Ruth Sheen) und Tom (Jim Broadbend) durch ein weiteres gemeinsames Jahr ihrer Ehe. Sie haben einen Sohn großgezogen, bewirtschaften ihren Schrebergarten miteinander und verbringen ihre Abende mit Freunden oder in trauter Zweisamkeit. Gerry arbeitet als Psychologin in einem Beratungszentrum, Tom ist Geologe und beschäftigt sich mit Gesteinsproben. Gerris offene, umsorgende Art und Toms trockener Humor ergänzen sich perfekt. Fast gleichmütig und ohne große Emotion akzeptieren sie ihre Freunde und Verwandten, so wie diese sich darstellen. Der Zenit der Jugend ist eindeutig überschritten und auch die Zeit der Midlifecrisis scheint gerade vorbei zu sein - die beiden wirken harmonisch und ausgeglichen. Anders als ihre Freunde, die sich abwechselnd in deren Londoner Vororteküche bekochen und verwöhnen lassen. Da ist Mary (Lesley Manville), eine Arbeitskollegin von Gerri, und Ken (Peter Wight), ein Freund von Tom. Mary ist Sekretärin an Gerris Arbeitsstelle. Sie hat keinen Partner, sucht verzweifelt und stolpert dabei von einem Fettnäpfchen ins nächste. Gerri lädt sie an Wochenenden zum Essen ein, um ihr die Einsamkeit erträglicher zu machen. An einem Abend ist Mary so betrunken, dass sie in deren Haus über Nacht bleibt und Gerri sie zu Bett bringt. Über das Jahr wird Mary immer verzweifelter, trinkt zu viel und fällt in eine tiefe Depression. Gerry sorgt sich um die Freundin und rät professionelle Hilfe zu suchen. Die Situation eskaliert als Joe (Oliver Maltman), Gerris Sohn, eines Tages seine Freundin mitbringt. Mary reagiert eifersüchtig und wird beleidigend. Als Folge bricht Gerri vorübergehend den Kontakt mit ihr ab. Einer der nächsten Wochenendgäste ist Ken, ein Freund von Tom. Auch er, ein verlassener und unglücklicher Single. Er trinkt, er frisst und er heult. Beide, sowohl Mary als auch John versinken in Selbstmitleid und so gäben sie eigentlich das perfekte Paar, John wäre nicht abgeneigt, aber Mary findet John abstoßend und gibt sich distanziert. Nach einem Monat taucht Mary an einem Sonntag unangemeldet wieder auf. Ihre Einsamkeit hat sie aus dem Haus getrieben. Diesmal trifft sie auf Ronnie, Toms Bruder, Marys Versuche einer Annäherung scheitern und so nimmt die Geschichte weiterhin seinen Lauf. Es ist als würde man selbst im Wohnzimmer des ewig zufriedenen Ehepaars sitzen und beobachten wer denn hier so aus- und eingeht. Mary sind zahlreiche Nah und Großaufnahmen gewidmet und am Ende fragt man sich, wer denn eigentlich die Hauptrolle hatte: Gerry, die umsorgende, freundliche Obermutter, die nichts so schnell aus der Ruhe bringt, oder Mary, die immer weinerlicher werdende, fast Alkoholikerin, die in ihrer Einsamkeit ein Bild von Verzweiflung bietet? Die Personen sind klar gezeichnet und authentisch durch die Handlung geführt. Sie behalten ihre Rollen bei, keiner entwickelt sich in diesem Jahr - außer Joe, dem Sohn, der schließlich doch die Freundin bringt, die sich die Eltern wünschen. Die Frage taucht auf, ob er sich einfach weiterhin so angepasst verhält, weil er den Eltern gefallen will, oder ob es tatsächlich sein eigener Wunsch ist. Schließlich ist er der einzige Protagonist der deutlich unter 40 ist und dadurch traut man ihm Perspektiven zu. Die Darstellung der Generation ab fünfzig kann in der Handlung als sehr einseitig erlebt werden. Personen die einen Partner haben, leben harmonisch und zufrieden, diejenigen die keinen haben, sind verzweifelte und einsame Charaktere, die gerne einen hätten, aber aus ihrer Haut nicht mehr heraus können und auf Grund dessen keinen finden. Trotzdem kommt der Humor nicht zu kurz, es wird gelacht, auch über die Tragik der handelnden Personen und in kleinen Gesten viel gezeigt. Dick Pope (Kamera) lässt mit vielen Nahaufnahmen, Unschärfen und langen Bildern Platz für das eigene Gefühl, die Möglichkeit, sich in jeder Rolle auch ein Stück weit selbst zu finden - denn sind wir nicht alle manchmal einsame, unbeholfene Marys, gleichmütigeToms oder hilfsbereite und sorgende Gerris? Große schauspielerische Leistung abseits von Mainstream. Ein liebenswürdiger Film über das Leben und das gemeinsame Alt werden, das Toleranz braucht, sowie Liebe und Freundschaft. (suja)
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