Prof. Dr. Haneke ist ein außerordentlicher Gesellschafts-Diagnostiker. Bei der Operation „schuldbeladenes humanistisches Bildungsbürgertum“ seziert er mit seiner französischen Assistenzärztin den Patienten so präzise, dass man fast keinen lebendigen Menschen mehr erkennt.
Sind wir wirklich seelisch so verstümmelt?! Müssen wir so sein? Haben wir keine andere Chance mit unserer schuldhaften Vergangenheit umzugehen, als mit unbewusster Verdrängung? Der mehrmals preisgekrönte Film von Michael Haneke, „Caché“ (dt. „Versteckt“), behandelt dieses Thema in einer fast gnadenlosen Langsamkeit, Schritt für Schritt, Bild für Bild.
Schicht für Schicht wird mit dem Messer unter die bürgerliche Haut geschaut, um zu sehen, was sich darunter verbirgt. Es ist ein bisschen, wie wenn ein Wissenschaftler die Beinchen einer Fliege - oder besser einer Gelse oder Mücke - „weil die hat es irgendwie verdient, so oft wie ihre Verwandten uns schon gestochen haben!“ - ausreißt, und geduldig wartet, ob, und wenn, wann und warum sie wohl daran sterben wird.
Die zweite Perspektive ist der Sadismus des sich schuldfrei fühlenden Voyeurs. Und die dritte die Lust des operierenden Arztes, etwas gefunden zu haben, was es aufzudecken und gegebenenfalls zu reparieren gilt.
Gut, dass der Hauptpart dieses Films von zwei so hervorragenden französischen Schauspielern getragen wird, Juliette Binoche und Daniel Ateuil, die allein durch ihre Nationalität den Ruf haben „nie ihren Text zu können“, also das Gegenteil von gedrillten Präzisionsmaschinen zu sein. Die Erwähnung dieses Gerüchts von Michael Haneke am Set nahm Juliette Binoche gleich als Anlass noch authentischer ihren - sehr gut vorbereiteten - „Wutausbruch spielen zu können“, wie sie bei der Pressekonferenz mit viel Charme erzählte. Überhaupt war bei der Pressekonferenz in der französischen Botschaft in Wien eine sehr entspannte und freundschaftliche Atmosphäre zwischen den beiden Hauptdarstellern und Michael Haneke, was man nach der bedrückenden Stimmung des Films nicht unbedingt vermuten würde.
Über die Handlung soll auf Wunsch des Regisseurs und Autors nicht viel verraten werden, da es trotz der antiseptischen Lupenreinheit ein Krimi ist, der möglichst spannend bleiben soll. Das bleibt er, je weniger Fakten man vorher erfährt.
Daher lieber die Information, dass es eine Anfrage aus den USA gibt ein Remake von der Geschichte drehen zu wollen. Mit anderen Schauspielern und einer dem Land entsprechenden Grundproblematik. Denn die Krankheit, um die es geht, gibt es überall, in allen Farben und Schattierungen. Zu jeder Zeit und an allen Orten. Und es wird sich immer wiederholen, weil wir lebens- und liebeshungrige Menschenkinder sind.
Möge der Schlaf des Gerechten uns von den Tagesqualen Erholung verschaffen. Und falls er sich nicht freiwillig einstellen sollte, haben wir ja – Gott sei Dank - die künstlich hergestellten und vielseitig vertriebenen Mittelchen, die uns in diesen Zustand versetzen können. (Stephanie Lang)