150 Jahre Favoriten – Das Ensemble21 rund um Rita und Georg O. Luksch führt das Publikum durch die lebendigen Erzählungen der Schriftstellerin Ada Christen.
Die Luft ist wie verpestet,
Vergiftet, was ich seh′,
Und alle Blicke sind Dolche
Und jedes Wort ein Weh.
– Ada Christen
1874, Wien – Armut, Hunger und Elend. Das sind die tiefgreifenden Themen der Bevölkerung. Die Suche der Kinder nach genug Holzspänen für den warmen Ofen im Winter, die ständigen Existenzängste und das stundenlange Nähen von Handschuhen, um das Überleben zu sichern. Zwischen all der Not des Bürger:innen- und Arbeiter:innentums bewegt sich eine kindliche Leichtigkeit, ein Trotzen der skurrilen Konventionen und das Entdecken des Humors inmitten des Elends.
Die Achterbahn des 19. Jahrhunderts
Es ist eine Leichtigkeit, ein Humor in den Erzählungen des Alltags, welche in Bezug auf die Lebensgeschichte von Ada Christen umso erstaunlicher wirken. Eine Frau am Ende des 19. Jahrhunderts, die alle möglichen Lebenslagen der damaligen Zeit erlebt hat. Im Wohlstand aufgewachsen, aber durch die Verurteilung des Vaters (aufgrund seiner Teilnahme an der Revolution von 1848) früh in Armut geraten. Die kleine Christl musste ihren Lebensunterhalt als Blumenmädchen, Näherin und Schauspielerin verdienen. Eine erste Ehe mit einem ungarischen Adeligen brachte Wohlstand, endete aber mit dessen frühen und dem späteren Tod ihres gemeinsamen Kindes. Abermals eine schnelle Talfahrt. Mittellos kehrte Christiana nach Wien zurück. Hier begann ihre Wirkung für die Nachwelt. 1868 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband "Lieder einer Verlorenen", der das Bürger:innentum provozierte und womöglich deshalb zum Erfolg wurde. Eine zweite Ehe brachte erneut finanzielle Sicherheit, bevor diese an wirtschaftlichen Schwierigkeiten scheiterte. Nach raschem Aufstieg die nächste Talfahrt. Es ist eine wahre Achterbahn-Fahrt einer Frau, die stets durch eigene Kraft den Problemen der damaligen Zeit trotzte und immer wieder aufstand. Und das nicht erst im Erwachsenen-Alter.
Der Blick der Kinder
"Ich habe mich auf die Suche nach Vorbildern, nach Vorreitern und Vorreiterinnen gemacht. Dabei bin ich auf ihre Gedichte und Erzählungen gestoßen." So formuliert Rita Luksch die Entstehung des neuen Stückes "Ada Christen – Die Stimme der Verlorenen". Selbst für viele aus Wien stammenden und seit vielen Jahren in Favoriten lebenden Menschen ist Ada Christen kein Begriff. Teils seit Jahrzehnten gehen Leute durch die Ada-Christen-Gasse, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wer die namengebende Person ist. "Die Gasse heißt halt so, da denkt man sich nix", fasst es ein Zuschauer des Stücks während des Trunks nach der Theateraufführung zusammen. Etwas, das sich für das gesamte Publikum ändern wird. Denn nicht nur feiert der zehnte Wiener Gemeindebezirk sein 150-jähriges Jubiläum. Alle Zuschauerinnen und Zuschauer waren am Abend des 13. Septembers 2024 zwei Stunden lang im Wien des 19. Jahrhunderts gefangen. Dass diese zwei Stunden aber keine reine Darbietung der prekären Lebensumstände waren, ist der lebhaften Inszenierung zu verdanken. "Die Leute waren ja verrückt wie heute", erklärt Rita Luksch die Lebendigkeit des Stücks und den immer wiederkehrenden Humor. Die Geschichten der kleinen Christl, des Alter Ego von Ada Christen, und die Erzählungen ihrer Freundin Lise sind der zugrunde liegende Stoff dieser Aufführung. "Ich wollte den Blick der Kinder einfangen", meint Rita Luksch. Das gelingt nicht nur durch die detailreichen Schriften von Ada Christen selbst, sondern auch durch das Schauspiel von Luksch. Das Publikum wird an die Hand der kleinen Christl genommen und durchlebt mit ihr die Härte des 19. Jahrhunderts. Rita Luksch visualisiert die Kälte des Winters, das Klappern der Zähne und die Sehnsucht nach dem warmen Kämmerchen. Jedoch verkörpert Luksch auch die Leichtigkeit eines Kindes, das Leuchten in den Augen und deren Unschuld inmitten der Armut. Zwischen den vielen Charakteren hin und her wechselnd, gelingt es der Wiener Schauspielerin, eine Immersion zu kreieren, die den kleinen Saal am Gleis 21 komplett füllt. Sie ist jedoch nicht die alleinige Unterhalterin.
Synthetischer Sound für die richtige Mood
Der heimliche Star des Stücks ist das Terra. Ein mikrotonaler Synthesizer, spielerisch eingesetzt von Komponist Georg O. Luksch. "Es ist eine ganz andere musikalische Welt", in die das Terra das Publikum entführt, verbildlicht Georg Luksch die Möglichkeiten des Synthesizers. "Es ist mir damit möglich, Glitches [bestimmte Klangästhetik, die absichtlich digitale oder mechanische Fehler nutzt, um einzigartige, oft unvorhersehbare Klänge zu erzeugen; Anm.] und Veränderungen von existierenden Mustern zu kreieren". Also keine klassische Klavier-Untermalung oder das für die damalige Zeit übliche Schrammelquartett. Der Grammy-Gewinner [für Club 69 im Jahr 2000; Anm.] untermauert die schauspielerische Darbietung seiner Ehefrau mit dem Programmieren von Moods (Gemütszustände) auf dem Terra. Eine passende unkonventionelle Musik für die Überwindung der skurrilen Konventionen dieser Zeit. Georg O. Luksch vergleicht sich in seinem Schaffensprozess mit einem Bildhauer, der nach und nach den wahren Ausdruck seines Kunstwerks "freischlägt". Dabei vermischen sich Hip-Hop-Beats mit synthetischen Tönen und sogar mit dem vom Terra hervorgerufenen Gesang. Für Luksch gibt es ein Ziel: Die "richtige Mood" zu treffen. Und davon gibt es in der Geschichte von Ada Christen ganz schön viele.
Zwischen Herz und Elend
Wieso Ada Christen? Ein Frage, die sich sicher viele Besucherinnen und Besucher des Theaterstücks zu Beginn gestellt haben. Nach der Vorstellung ist die Frage jedoch relativ leicht zu beantworten: Das Leben der Wiener Schriftstellerin gibt schlichtweg wunderbare Geschichten her. In der Zeit der aufkeimenden Industrialisierung, der vorherrschenden Armut und der andauernden Unterdrückung der Frauenrechte, gibt es kaum eine bessere Geschichte zu erzählen als jene von Ada Christen. Erzählungen von Kindern, die tagtäglich kaum vorstellbare Kraftakte durchführen müssen, nur um am Abend vor einem warmen Feuer ein Stück Brot essen zu können. Schilderungen von kleinen Mädchen, die sich am Platz des Zimmermanns mit den Jungs um die Holzspäne prügeln, wildfremden Männern schlagfertig Paroli bieten und ihren eigenen Weg suchen. Die gebürtige Christiana Rosalia Friederik kombiniert in ihren Werken unterschiedliche Gemütszustände. In ihren Gedichten schreibt sie direkt und ohne Schleier von den Problemen ihrer Zeit, schildert als Frau ihre Lust und verkörpert eine Abkehr von romantisierender Literatur. Andererseits lässt sie spielerisch von ihren eigenen Erfahrungen und Geschichten erzählen, gibt Einblicke in skurrile Erlebnisse ihrer Freundin Lise und lässt immer wieder Humor und Leichtigkeit einfließen. Christen schildert in ihrem Gedicht "Elend" zwar die verpestete Luft, die Vergiftung des Blickfeldes und die Schwerfälligkeit der Gesellschaft, konterkariert dies aber in den Erzählungen mit der Leichtigkeit und Herzlichkeit der kindlichen Erzählung. Rita Luksch ging es auch darum zu zeigen, "was die damals für unsere Zeit bereits erkämpft haben" und spielt dabei auf den Beginn der Emanzipation an. Ada Christen, eine Frau, die in völliger Armut gelernt hat, sich zu beweisen. Die als Schriftstellerin mit ihren Schilderungen der Lust, Leidenschaft und der Offenlegung des Elends die Tabus gebrochen hat. "Es ist toll, wenn sich eine Frau so etwas traut", bestärkt Rita Luksch den Eindruck von Christen.
Dank der detaillierten Erzählungen von Ada Christen und deren lebhafte Inszenierung durch Rita und Georg O. Luksch sind so manche Stimmen selbst nach 150 Jahren Bestehen des Bezirks nicht verloren. //
Text: Tobias Schwaiger
Fotos: ©Ensemble21; Porträt Ada Christen (Rudolf Krziwanek – Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Austria, Inventarnr. Pf 296:D)
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