Frank Castorf experimentiert vier Stunden lang mit Heldenplatz von Thomas Bernhard im Wiener Burgtheater.
Heldenplatz von Thomas Bernhard im Zug nach Nirgendwo
Ich sitze im Zug, der mich nach Hause bringt, weg vom Wiener Burgtheater, weg vom Theaterstück Heldenplatz von Thomas Bernhard, das nicht Heldenplatz von Thomas Bernhard ist, das im klassischen Sinne kein Theaterstück ist, sondern über einen Großbildschirm das Geschehen abseits der Bühne wiedergibt. Wenn ich einen Film sehen möchte, gehe ich ins Kino, oder bleibe ich zuhause, ich hab auch einen Großbildschirm. Der einzige Unterschied ist ein großer Unterschied. Die Akteurinnen sind live gefilmt, sprechen live in die Kamera. Theaterbühnen sind eh überbewertet. Das Bühnenbild erinnert nicht unbedingt an Thomas Bernhard, aber wer hat schon Heldenplatz von Thomas Bernhard gelesen? Erste Szene. Großes Garderobenzimmer. Ein hohes Fenster mit Holzjalousien. Zwei hohe Türen links. Eine hohe Türe rechts. Mehrere geschlossene oder geöffnete Kleiderschränke bis zur Decke an allen Wänden. Mehrere geschlossene Kisten und Koffer, nach Oxford adressiert. Früher Vormittag. Herta steht mit einem Staubtuch am Fenster und schaut auf die Straße hinunter. Die Anweisungen von Thomas Bernhard klar, nüchtern, gewissermaßen dodelsicher, deppensicher, aber nicht Frank-Castorf-sicher, denn Frank Castorf ist ein Experimentalregisseur, der irgendwelche Theaterstücke, Klassiker, zerstört, um sie sogleich wieder neu auszurichten, in neue Bahnen zu lenken im Zug nach Nirgendwo. Der Originaltext nur noch Zitat. Neue Texte im Stile der jeweiligen Originalautorin oder Autor als Weiterführung, Neuordnung, überhöhtes Selbstbewusstsein. Was der oder die kann, kann ich schon lange. Kann er alles machen, dieser Frank Castorf, aber es ist halt dann nicht mehr (z.B.) Heldenplatz von Thomas Bernhard.
Literarische Qualität wird durch den Versuch einer Provokation ersetzt
Frank Castorf misst sich mit der Sprachkraft von Thomas Bernhard. Ich habe es nachgemessen, als der Zug in einer Station kurz vor sich hin ruhte. Kein Maßstab. Eine Einbildung. Ein vierstündiger Versuch die Sprachqualität von Thomas Bernhard zu zerstören, ein vierstündiger Versuch, selbst verfasste Sprachsalven wie Thomas Bernhard klingen zu lassen. Wenn das Ensemble in einem Zug sitzt und das Rumpeln des Zuges mit ihren Körpern simuliert, und das Ensemble mal schreit, mal wispert, mal flüstert, mal gutturale Laute von sich gibt, ist die Performance, losgelöst von Heldenplatz von Thomas Bernhard, an sich eh witzig. Sinnbefreit allerdings im Versuch einer Art Rückführung des Stücks, einer Replik an Josef Schuster, den Protagonisten, an den Thomas Bernhard in Heldenplatz erinnert und kommentiert. Vier Stunden, in denen Frank Castorf seinen eigenen Dilettantismus auslotet und diesen fast schon meisterhaft exerziert. Sobald Thomas Bernhard zitiert wird, ist die Sprachmelodie unverkennbar, wenn Inge Maux eine Textpassage aus Heldenplatz singt, ist das schlichtweg großartig, wenn Birgit Minichmayr jiddische Lieder singt, ist das in ihrer Großartigkeit ebenbürtig, wenn auf aktuelles Zeitgeschehen Bezug genommen wird, dient Thomas Bernhard nur noch als Fassade. Literarische Qualität wird dann durch den Versuch einer Provokation ersetzt. Provokationsversuche scheitern meistens kläglich. So auch hier. Die Überspitzung, Überzeichnung, wie es Thomas Bernhard verstand literarisch mühelos zu punktieren, ist bei Frank Castorf ein eitler Wunsch, ein absurder Gedanke.
Aber die Welt besteht ja nur aus absurden Ideen.
Bei der Aufführung sitzt neben mir eine Frau, die sich trotz alledem oder gerade deswegen bestens amüsiert. Sie kichert, sie lacht, ihr gefällt offensichtlich die Darbietung, das gesprochene und geschrieene Wort, die Musik, das geschredderte Allerlei, das große Nichts, das vorgibt, Thomas Bernhard zu sein. Nach der Pause bleibt ihr Sitzplatz leer. Vielleicht war es doch nur ein mitleidsvolles Lachen, eine Beileidskundgebung für sich selbst. Vielleicht kam ihr aber einfach auch nur Helmut Qualtinger in den Sinn: Da fällt mir ein, ich muss jetzt gehen. Ihr Lachen jedenfalls klebt weiterhin irgendwo zwischen Parkett und Parterre am Boden. Das Schaulaufen auf der Burgtheater Bühne, zumeist via Großbildschirm live gefilmt zu beobachten, geht ungehindert weiter und mehr und mehr keimt der Verdacht, dass Thomas Bernhard ganz genau wusste, warum er in seinem Testament ein allgemeines Aufführungs- und Publikationsverbot aller seiner Werke innerhalb der Grenzen Österreichs verfügt hatte. Heldenplatz von Thomas Bernhard gilt als Skandalstück. Der Skandal war aber weder das Stück noch der Autor, sondern die Menschen, die der Nazi-Ideologie nachtrauern und ihre Scheiße vor dem Burgtheater abluden und die Plakataktion, die Jörg Haider, der Ziehvater des österreichischen Rechtsextremismus, in Auftrag gab. Heute, diese Inszenierung, die einen anderen Titel tragen sollte, und sei es nur ganz profan "Heldenplatz 2024 von Frank Castorf", dient kaum dazu, dass eine jüngere Generation das Werk von Thomas Bernhard für sich entdeckt. Dazu taugen weder die Provokationsversuche und Gedankenflüsse und Gedankenstriche von Frank Castorf noch die Zumpferlparade von Franz Pätzold und Marcel Heuperman am Ende des Stücks. Was nach der vierstündigen Aufführung bleibt, ist der Ärger nicht Heldenplatz von Thomas Bernhard gesehen zu haben, sondern ein Theaterstück, das sich "Heldenplatz von Thomas Bernhard" nennt. Das Theater war doch immer nur ekelhafte Wichtigtuerei. Einerseits. Aber die Welt besteht ja nur aus absurden Ideen. Andrerseits. Endstation. Bitte alle aussteigen. //
Text: Manfred Horak
Fotos: Matthias Horn
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