Soziales Drama im neuen Kleid: Autor Ewald Palmetshofer lässt Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" im 21. Jahrhundert ankommen.
Die Theaterkritik Vor Sonnenaufgang
Dieselben Personen, dieselbe Konstellation, dieselbe missliche Lage hinter der grellen weißen Weste der perfekten Familienidylle. Nicht dieselbe: die Zeit, in der das Stück angesiedelt ist. Dieses spielt bei Palmetshofer nämlich auf der modernen Bühne eines schicken, in Plastik gehüllten Traums eines sich im ständigen Umbau befindenden Familienhauses. Familie Hoffmann-Krause ist in freudiger Erwartung: Martha (Sarah Sophia Meyer) steht kurz davor, ihr erstes Kind zu entbinden. Schwester Helene (großartig und stark gespielt: Maximiliane Haß) ist extra für dieses Ereignis angereist. Man hat zu viel Zeit für zu leere Gespräche, zu viel dicke Luft für zu tiefes Atmen. Und zu viel alten Staub unter den Teppich zu kehren, der durch das aufgesetzte emsige Treiben von Annemarie Krause (Susanne Konstanze Weber) und das plötzliche Hinzustoßen des Journalisten Alfred Loth (Mathias Lodd) aufgewirbelt wird.
Wie ein drohender Vorbote auf das Morgen
Regisseur Bernd Mottls Inszenierung von Ewald Palmetshofers Fassung des Dramas "Vor Sonnenaufgang" dauert stolze zwei Stunden und vierzig Minuten, fühlt sich jedoch nicht so an. Das Bühnenbild erlaubt durch die Drehtechnik und die dezente Ausstattung (Friedrich Eggert) mit Ausschnitten eines unfertigen Familienhauses, die verschiedenen Szenen in stets neuem Licht erscheinen zu lassen. Letzteres fließt in die Inszenierung auf eine eindringliche Art und Weise mit ein: Die meiste Zeit über unauffällig verwendet, wird es in bestimmten Szenen blendend hell Richtung Publikum gerichtet: Als Zuschauer/in fühlt man sich an den herannahenden Sonnenaufgang erinnert, dessen grelles Licht in immer kürzer werdenden Abständen wie ein drohender Vorbote auf das Morgen verweist. Die Musik hält sich bis auf Zwischensequenzen dezent im Hintergrund, untermalt die Handlung des Stücks jedoch durch an den richtigen Stellen eingespielte Noten, die der Aufführung den nötigen musikalischen und stimmungserzeugenden Rahmen verleihen. Interessant sind die immer wieder eingespielten Sprechpassagen, die dem Stück eine Art philosophierendes Über-Ich verleihen, das die wahre gesellschaftliche Lage zu entkleiden sucht, die sich hinter dem Vorhang aus Plastikplanen versteckt. Auch die Kostüme der Akteure sind der jeweiligen Rolle auf den Leib geschneidert: Die hippe Helene trägt als gescheiterte Grafikdesignerin von Welt schwarzes Sakko und schneidige Sneakers, während ihre Schwester Martha ihres voluminösen Bauches wegen mit weiten Kleidern Vorlieb nehmen muss. Ehemann Thomas besticht mit sauberem Hemd ohne Bügelfalte und die alten Krauses geben das Patchwork-Paar in eleganter Sonntags-Klamotte. Der Schein trügt jedoch: Das großartige Ensemble verkörpert mit Bravour eine Familie, die nach außen hin intakt scheint, in den inneren Strukturen jedoch nur mehr durch zum Zerreißen gespannte Fäden zusammengehalten wird, die unter der Last von Gesellschaft, Politik und Sucht immer dünner zu werden drohen. Der alte Krause (Franz Xaver Zach) trinkt gerne mal eins über den Durst, und auch Ehefrau Annemarie verbirgt ihr wahres Ich hinter einer Fassade aufgesetzter Fröhlichkeit. Unter Thomas' sauberem Hemd verbirgt sich eine weniger saubere Persönlichkeit, die in lüsternen Annäherungsversuchen an Schwägerin Helene zutage tritt. Auch der scheinbar zufällige Besuch von Jugendfreund Alfred Loth und dessen existenzkritische Fragen bringen Unruhe ins Haus und lassen die scheinbar perfekte Fassade bröckeln. Da kann auch der in seinem Landarzt-Dasein frustrierte Dr. Peter Schimmelpfennig (Clemens Maria Riegler) nicht mehr helfen. Eine kurzweilige Inszenierung gepaart mit großem schauspielerischem Talent, das vor allem eines ist: Ein unbeschönigter Blick auf eine zerrissene Familie, die der Entfremdung geweiht ist. Maximiliane Haß als Helene und Fredrik Jan Hofmann als Thomas verkörpern gekonnt die dem Stück von Anfang bis Ende hin zentralen Figuren, an denen sich der soziale Verfall am deutlichsten bemerkbar macht. Denn am Ende "werden wir alle irgendwann verschwunden sein, die Welt jedoch verschwindet nicht". //
Text: Katharina Hoi
Fotos: Lupi Spuma
Kurz-Info:
Vor Sonnenaufgang
Bewertung: @@@@
von Ewald Palmetshofer
nach Gerhart Hauptmann
Kritik zur Aufführung am 24.5.2019 im Schauspielhaus Graz
Regie Bernd Mottl
Bühne Friedrich Eggert
Kostüme Daniela Selig
Musik Moritz Fischer
Dramaturgie Jan Stephan Schmieding
Licht Thomas Trummer
Mit Franz Xaver Zach, Susanne Konstanze Weber, Maximiliane Haß, Sarah Sophia Meyer, Fredrik Jan Hofmann, Mathias Lodd, Clemens Maria Riegler