Selten hat das traditionsreichste Bühnenhaus Österreichs von seinen Abonnementinhabern und Dauerkartenkunden sportlich so viel abverlangt wie in der jüngsten Inszenierung des Radetzkymarschs.

Das Bühnenbild im Burgtheater, das aus gelben, pinken, roten und blauen, kleinen, mittleren und überdimensional großen Luftballons besteht, sorgt dafür, dass ein Nickerchen während der vierstündigen Aufführung für die Zuschauer unmöglich wird.

Vor allem in den ersten Reihen - die auf Grund der hohen Ticketpreise doch meist von älteren Theatergängern besetzt sind - ist das Publikum mehr damit beschäftigt die herbeifliegenden Ballons mit Mühe wieder Richtung Bühne zu stupsen, statt dem eigentlichen Geschehen darauf zu folgen. Auch wenn die Schauspieler sehr bemüht sind die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu gewinnen und bestmöglich mit den unberechenbaren Requisiten zu agieren, scheinen die mit Helium gefühlten Bälle spannender zu sein.

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Regisseur Johan Simons inszeniert die drei Generationen umspannende Familiengeschichte mit einer großen Besetzung und viel Körperkontakt. Die Männer der Familie Trotta führen einen nicht enden wollenden Kampf mit sich selbst. Irgendwo zwischen Pflichtbewusstsein seinem Kaiser gegenüber und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung, liebt der jüngste Spross der Trottas vor allem verheiratete Frauen und Hochprozentiges. Nebenbei versucht er das bröckelnde Verhältnis zu seinem Vater zu retten und über seine verstorbene große Liebe hinwegzukommen.

Joseph Roths Roman enthält rührende Passagen über das Zueinanderfinden von Vater und Sohn und thematisiert das folgenschwere Ende der Österreich-Ungarischen Monarchie. Aber was genau macht die Geschichte für den Moment inszenierenswert? Wenn man dem Fraktionsvize der Sozialdemokratischen Partei Deutschland (SPD) Achim Post glaubt, könnte die aktuelle Regierungsbildung im Nachbarland doch für bedenkliche Aktualität des Themas sorgen. Dieser sagte in einem Statement der deutschen Tageszeitung Die Welt: "Österreich-Ungarn ist wieder da. Mit Kanzler Kurz, Burschenschafter Strache und Brandstifter Orbán geht's im Dreivierteltakt nach rechts." Bleibt zu hoffen, dass dieses politische Kapitel fröhlicher endet, als das Schicksal Carl Josephs im Roman.

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Allgemein fragt man sich als zugezogene Wahlösterreicherin trotz allem, was der Wiener an dem Radetzkymarsch denn so findet. Zusammen mit Stefan Zweig und Johann Nestroy ist das Stück unter den Top Drei der Wiener-Theaterszenen-Lieblingsworten, welchen man als Studentin der Theaterwissenschaften nicht entkommen kann. Beim Besuch der Inszenierung von Simons zeigt sich jedoch, dass der Plan "aus alt mach neu" nicht immer aufgeht. Auch dass die alteingesessenen Ensemblemitglieder des Burgtheaters mit Nachwuchsdarstellern auf der Bühne stehen reicht nicht aus, um Jung und Alt gleichermaßen zu begeistern. Das Kostüm schafft den Spagat zwischen Österreich-Ungarischer Monarchie und Neuinterpretation des verstaubten Romans trotzdem. Dass Kaiser und Soldaten die meiste Zeit in Unterwäsche auf der Bühne stehen, nimmt dem militärischen Stoff seine Steifheit und macht sogar dem arroganten Leutnant zu einer verletzlichen Figur, die fast etwas Mitleid verdient.

Die geniale Idee der Bühnenbildnerin Katrin Brack gigantische Luftballons im Bühnenraum fliegen zu lassen, mag vielleicht nicht ganz nach Plan funktioniert haben. Zu einem anderen Zeitpunkt, an einem Ort der mehr Raum für Innovation lässt, hätte das schwebende Bühnenbild für mehr Begeisterung gesorgt. Es ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass im Leben eben nicht immer alles nach Plan verläuft. Genau wie das Schicksal der Figuren im Radetzkymarsch immer neue Wege einschlägt, ist auch die Flugbahn der Luftballone nicht vorhersehbar. Sie durchbrechen die vierte Wand der Theaterbühne wie Gesetzlose, ganz egal was die Bühnenbildnerin davon hält. Der Saal ist nach der Pause trotzdem weitaus weniger gefüllt. Auch wenn die Ballons nach 210 Minuten immer noch über die teilweise verlassenen Stühle der ersten Reihe des Burgtheaters schwebten, war bei den meisten Gesichtern nach dem Verlassen der Vorstellung die Luft raus. //

Text: Kim Höbel
Fotos: Marcella Ruiz Cruz/Burgtheater

Radetzkymarsch
nach dem Roman von Joseph Roth
Bewertung: @@
Kritik zur Premiere im Burgtheater Wien am 14.12.2017
Spiellänge: 210 Minuten
Regie Johan Simons
Bearbeitung / Dramaturgie Koen Tachelet
Bühnenbild Katrin Brack
Kostüm Greta Goiris
Musik Warre Simons
Licht Norbert Joachim

Mit Dominik Dos-Reis, Sofia Falzberger, Philipp Hauß, Maximilian Herzogenrath, Marius Michael Huth, Daniel Jesch, Lorena Mayer, Ferdinand Nowitzky, Johann Adam Oest, Manuel Ossenkopf, Nick Alexander Pasveer, Christoph Radakovits, Peter Rahmani, Falk Rockstroh, Merlin Sandmeyer, Steven Scharf, Yannick Schöbi, Martin Vischer, Andrea Wenzl