Was wird aus einem Kind, das Angst litt, von den Eltern verstoßen zu werden und verhungern zu müssen? Der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim (1903-1990) schrieb in einer Analyse zum Märchen Hänsel und Gretel, dass die Kinder bei der Rückkehr zu ihren Eltern und nachdem die Hexe den Tod fand, erkennen, dass sie ihr Schicksal "in die eigene Hand nehmen" müssen. Und: "Gretel weiß, dass man das allein tun muss. Indem zu Beginn des Märchens einmal Hänsel der Retter ist und zum Ende nun Gretel, lernen die Kinder, auf sich selbst, auf einander und auf Altersgenossen zu vertrauen. Jetzt sind sie dem Elternhaus eine Stütze und tragen durch die mitgebrachten Schätze sogar zum Ende der Armut bei." Was wird also aus solchen Kindern? Reife, starke Persönlichkeiten. Nun, zumindest Gretel, denn sie alleine scheint offenbar diesen Reifungsschritt geschafft zu haben. Von Hänsel fehlt hingegen jede Spur.
One-Woman-Performance
Das Stück "Gretel" (8+) im Dschungel Wien ist daher logischerweise eine One-Woman-Performance, in der sich Gretel, inzwischen erwachsen und Bäckerin, sich nochmals an diese Zeit zurück erinnert. Dass dieses Märchen als Hänsel und Gretel in die Kulturgeschichte einging, macht ihr dabei zu schaffen, denn schließlich, siehe oben, hat sie, Gretel, letztendlich die Hexe besiegt, sie, die Supergretel. Vielmehr - so die Heldin des Stücks - sollte das Märchen "Gretel und der kleine Hans" heißen.
Den Albtraum durchqueren
Christina Rauchbauer ist das Supergretel und besticht das Publikum abwechselnd mit Schauspiel und Tanzszenen und gegen Ende dann auch noch mit gummiartigen Süßigkeiten. Ihr physikalisch fehlender Bruder taucht hingegen nur als Stimme aus dem Off auf, eher wie ein Geistwesen aus ferner Vergangenheit, also erneut keine große Hilfe. Supergretel durchlebt quasi alles nochmal. In einer Traumszene ermordet sie erneut die Hexe. Das Knusperhäuschen, der Wald, die böse Stiefmutter - ein einziger Albtraum. Auch heute noch. Das liest sich jetzt humorloser als es ist. Gretels Weg zum Neuanfang macht nämlich sehr viel Spaß ob der interaktiven Situationen und ob der gedanklich ausformulierten Satzkreationen. Möge sie jetzt endlich - after all these years - aufgrund dieser installationsintensiven Reise "glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende" sein. //
Text: Manfred Horak
Fotos: Pablo Leiva
Gretel (8+)
Bewertung: @@@@
Kritik zur Premiere am 16.11.2017 im Dschungel Wien
Idee, Konzept: Christina Rauchbauer, Emily Magorrian
Regie, Choreografie: Simone Kühle, Flo Staffelmayr
Komposition, Ton-Installation: Julia Meinx
Darstellerin: Christina Rauchbauer
Bühnenbild: Anne-Sophie Raemy
Produktion: Agnes Zenker