Elias Canetti bezeichnete Karl Kraus dereinst als "eine Art Gottesgeißel der schuldigen Menschheit", weil er es war, "der den Ersten Weltkrieg, in dem die Sieger auf allen Seiten zur obersten Weltpest erhoben wurden, als Einziger von Anfang bis Ende und in jeder seiner Einzelheiten bekämpft hat." Seine apokalyptische Total-Satire ist seit 19.9.2014 auch wieder im Wiener Volkstheater zu sehen.
Jeder einzelne Satz der 750 Seiten starken Kriegstragödie wird zu einer konkreten Aussage in diesem Drama mit Elementen aus Prosa, Lyrik, Volksstück und Operette. "Die letzten Tage der Menschheit" ist eine Einheit aus Zeit, Ort und Handlung. Ein Weltgericht, das in der Literaturgeschichte seinesgleichen sucht und fürs Theater als unspielbar gilt. Dennoch wagen sich immer wieder Theaterhäuser an dieses Stück heran, kürzen es nach Lust und Laune, und, so scheint es, je mehr Geld zur Verfügung steht, desto weiter entfernt es sich vom Ideal - lest dazu unsere Kritik zur Aufführung im Wiener Burgtheater.
Endlich wieder einmal eine bühnenreife Gestaltung
Das Ideal, das waren bisher - so die einhellige Meinung - die Lesungen von Helmut Qualtinger, die als "reiner und richtiger" ((c) Michael Horowitz) gelten als bisher jede dreidimensionale Aufführung. Ein Grund ist sicherlich, dass dieses Drama nicht für die Bühne geschrieben wurde und anstelle des Bühnenraums die menschliche Fantasie treten muss. Und genau hier setzen Thomas Schulte-Michels (Regie), Susanne Abbrederis (Dramaturgie) und Tanja Liebermann (Kostüme) an, das einem Marstheater zugedachte Drama bühnenreif zu gestalten. Aus einem Helmut Qualtinger der vorliest werden zwölf Schauspieler, die allesamt in weißer langer Unterwäsche auftreten und sich dadurch mit wenig Aufwand verwandeln können. Verwandlungen, die in dieser Welttragödie ständig notwendig sind, schließlich beinhaltet die ungekürzte Fassung 220 Szenen, in denen mehr als 500 Figuren auftreten. Leider wurden es nur zwei Stunden (anders formuliert: halb so lang wie die Burgtheater-Fassung, dafür mindestens doppelt so gut), in denen mit Rasanz eine Szene der anderen weicht.
Weltuntergangsirrenhaus und Absolut-Satire
Zwei Stunden, in der die Satire und das Grauen Händchen halten, in Szenen, die bisweilen zu grandiosen Bildern gesteigert werden, und in denen die allesamt herausragend agierenden Schauspieler in herrlich absurden wie albernen Kostümierungen das wahre Ausmaß der Tragik von vor 100 Jahren (und von heute) deutlich machen. Harmlos wirkende Gespräche werden durch einfachste Mittel gespenstisch verstärkt. Es ist müßig, einzelne Szenen (und einzelne Schauspieler) hervorzuheben, denn egal ob die gruseligen Offiziere in ihren grindigen falsch geknöpften Staubmäntel oder die Kriegspresseberichterstatterin Alice Schalek, der Abonnent oder der patriotische Volksschullehrer, der Feldkurat mit seinem Riesenrüschenkragen oder sonst jemand aus dem Weltuntergangsirrenhaus die Szene betritt, das Ensemble schafft es mit jedem gesprochenen (und bisweilen gesungenen) Wort aus der Absolut-Satire von Karl Kraus das Optimum herauszuholen.
Rasiermesserscharfe Feinheiten und wirklichkeitsnahe Wahrheiten
Der Schriftsteller Hermann Broch schrieb einmal: "Kraus nahm es auf sich, das Unheilsgeflecht Masche um Masche, Geringfügigkeit um Geringfügigkeit, Lächerlichkeit um Lächerlichkeit aufzulösen und das Böse darin nachzuweisen." Dem Regisseur Thomas Schulte-Michels und seinem hervorragenden Ensemble gelang es eben dies auf die Bühne zu bringen mit all den rasiermesserscharfen Feinheiten und wirklichkeitsnahen Wahrheiten in Ausdruck und Gestaltung. Nach viel zu kurzen zwei Stunden Spiellänge wurde der Vorhang zugezogen und auf die Gegenwart verwiesen. Diese Inszenierung zu überbieten wird nicht einfach sein. (Text: Manfred Horak; Fotos: Lalo Jodlbauer)
Kurz-Infos:
Die letzten Tage der Menschheit
von Karl Kraus
Bewertung: @@@@@@
Kritik zur Aufführung am 19.9.2014
Volkstheater Wien
Regie und Bühne: Thomas Schulte-Michels
Kostüme: Tanja Liebermann
Komposition und musikalische Leitung: Patrick Lammer
Dramaturgie: Susanne Abbrederis
Mit: Haymon Maria Buttinger, Marcello de Nardo, Erwin Ebenbauer, Günter Franzmeier, Rainer Frieb, Tany Gabriel, Thomas Kamper, Ronald Kuste, Patrick Lammer, Alexander Lhotzky, Roman Schmelzer/Patrick O. Beck und Günther Wiederschwinge