Depression und Demonstration: wie politisch ist die Krankheit, wie privat der Protest? Lola Arias' Erkundungen der möglichen Dimension(en) des Politischen in "Melancolía y Manifestaciones".
Wer beim Auftakt zum Lateinamerika-Schwerpunkt der Wiener Festwochen 2012 ein aufklärerisch-moralisierendes, oder verklärend-historisierendes Theaterstück mit detailreichem Faktenwissen rund um den Militärputsch in Argentinien 1976 vermutet, wird in Lola Arias' autobiografisch-dokumentarischem Erzähltheater nicht auf seine Rechnung kommen, was eine Theaterbesucherin nach der Vorstellung bemängelte. Ganz im Gegenteil musstesich das Publikum in der Premiere im brut am 13. Mai dafür auf eine vielleicht härtereBewährungsprobe einlassen, nämlich auf die Anteilnahme und Auseinandersetzung mit dem Politischen im Privaten.
Poetisches Kaleidoskop
Rein zufällig fällt das Geburtsjahr von Lola Arias mit dem Militärputsch in Argentinien zusammen. Ist die plötzlich einsetzende psychische Erkrankung der Mutter Folge der postnatalen Depression oder liegt die Ursache bei den politischen Ereignissen dieser Zeit? Könnte diese Krankheit auch eine Form der Verweigerung sein? Mutig begibt sich Arias auf die Spuren ihrer Zeit des Aufwachsens und Zusammenlebens mit ihrer Mutter und wird zur fantasievollen, liebevollen und zugleich ernüchternd unsentimentalen biografischen Chronistin der kleptomanischen, wie auch manisch-depressiven, kindlich verpielten wie distanzierten Mutter. Gemeinsam mit einer jungen Darstellerin, die sie als Tochter mimt und vier weiteren über 70-jährigen Darsteller/innen bastelt Arias auf der Bühne ein poetisches Kaleidoskop und befragt mit Hilfe von Videoprojektionen mit Bildern von ihrer (möglicherweise richtigen) Mutter und Aufnahmen in Argentinien das Verhältnis von Realität und Fiktion, Vergangenheit und Zukunft.
Internationale der Alten
Dem gegenüber stellt sie im zweiten Teil der Vorstellung den lauten öffentlichen Protest. Es sind die älteren, (an)mutigen Darsteller/innen, die nun ganz unverschämt und vehement das Kommando als "Internationale der Alten" trotz ungleicher Parteicouleur übernehmen, weil, wie sie finden, sie auch ein Wörtchen mitzureden haben, schließlich lebten sie schon lange genug. Es ist dies die Generation, die für eine Zeitspanne steht, in der nicht nur der erste Fernseher erfunden wurde, die Revolution der 1960er Jahre stattfand, sondern auch die KZ-Lager gehören, sowie die Entwicklung des Internet. Vor allem aber manifestierte sich das Öffentliche und Politische noch konkret als fester Bestandteil deren Lebensgeschichte. Letzteres äußert sich angesichts der aktuell ausgerufenen Krise teilweise wieder vermehrt, dennoch ist dies für die Multi-Options-Generation Wohlstand und Demokratie, die Werte und politische Haltungen eher privat denn öffentlich, abgesehen von der allgegenwärtigen, meist oberflächlichen und selbstreferentiellen Selbstdarstellung, kundtut und insofern individueller und behüteter aufwuchs, noch fremd.
Protest gegen die jetzige Zeit
Arias wählt bewusst eine persönliche Dimension des Zeitlichen und nähert sich diesen Generationsklüften mit einer fürsorglich tröstenden und zugleich konfrontierenden Dramaturgie, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen. In dieser berührenden wie nachdenklichen Hommage an das Verbleiben der Zeit und das Imaginieren einer Zukunft, bleibt vor allem die erhellende Erkenntnis, dass das gemeinsame Zuhören, Sprechen oder Schweigen als schwierigste Form einer zwischenmenschlichen Annäherung immer auch eine politische Dimension hat und ist. Es ist unglaublich still, als sich die 'Alten' nach ihrem Plädoyer am Ende bis auf die Unterwäsche schweigend ausziehen. Auch das Schweigen ist in diesem Fall leider ein notwendiger, aber wirksamer Protest gegen die jetzige Zeit. Danke dafür Lola Arias. (Text: Kathrin Blasbichler; Fotos: Nurith Wagner-Strauss)
Kurz-Infos:
Melancolía y Manifestaciones / Melancholie und Protest
Bewertung: @@@@@
Kritik zur Premiere am 13.5.2012 im brut im Künstlerhaus im Rahmen der Wiener Festwochen 2012
Publikumsgespräch:
14. Mai, im Anschluss an die Vorstellung, brut im Künstlerhaus