entfernung01Der subversive Roman "Entfernung" von Marlene Streeruwitz ist am Schauspielhaus Wien in der Inszenierung von Regisseur Samuel Schwarz zu sehen. Eine Nachbetrachtung über diesen reflexiven, episodischen und kurzweilig-lehrreichen Abend jenseits der Provokation.

Theater als politischen Verhandlungsort von öffentlicher Wirksamkeit oder als "Ort der Selbstverständigung" als Zentrum einer Polis wie in der Antike, (Hans-Thies Lehmann) an dem grundlegende gesellschaftliche Wertkonflikte ausgetragen und thematisiert werden, wird im Zeitalter eines Angebots deutlich massenwirksamer Medien als Schauplätze von politischen Austragungen zwangsweise zur Ausnahme. Eines vorhandenen Rests an Raum einer solchen Utopie bemächtigten sich Regisseur Samuel Schwarz und musikalischer wie auch konzeptueller Kollaborateur Ted Gaier (u.a. Mitbegründer der Hamburger Punkband 'Die Goldenen Zitronen') in der kollektiven Umsetzung von Marlene Streeruwitz' subversiven Roman "Entfernung" (2006).

In der von Schicksalshieben hart geprüften Protagonistin Selma Brechthold, die als entlassene Dramaturgin der Wiener Festwochen wie auch vom Partner verlassene Frau den Boden unter der Füßen zu verlieren droht, bringt Streeruwitz ihre systemkritischen, erbitterten Fragen über Sinn und Unsinn am Kunstbetrieb Theater, sowie über Verwertbarkeit, Doppelmoral und Rollenmuster im ach so progressiven und linksliberalen Kunstbetrieb zum Ausdruck. Schwarz, der den von Subventionen lebenden und Konkurrenzdenken geprägten Theaterbetrieb als Regisseur und Schauspieler zur Genüge kennenlernte fühlte sich dazu diese Fragen zu internen Prozessen am Theater radikal selbstkritisch in einer installativen wie performativen Versuchsanordnung auf, vor und neben die Bühne zu bringen.

Als letzten Rettungsversuch ihrer Karriere unternimmt die Protagonistin Selma eine Reise nach London, um ein Projekt mit der Künstlerin Sarah Kane an Land zu ziehen. Sie scheitert kläglich, wird belächelt und gerät schließlich auch noch in die Terroranschläge von London (Juli 2006). Schwarz lässt seine drei Schauspieler/innen (Vincent Glander, Veronika Glatzner, Barbara Horvath) selbst wählen, welche der Abschnitte von Selmas Reise sie abwechselnd in der dritten Person nacherzählen möchten, was alle Beteiligten zu Mitautor/innen des Stücks macht. Währenddessen agieren die jeweils anderen beiden als Bühnenbildner - schließlich will man dem Entstehen des szenischen Illusionscharakters bewusst zusehen und erproben, was dabei eigentlich vor sich geht. Schwarz setzt die Forderungen von Streeruwitz' nach kleineren, basisdemokratischen Kulturinstitutionen, die sich wieder der Untersuchung der Logik der Macht widmen sollen anstatt einen konformistischen Kunstgeschmack zu reproduzieren, der Provokantes und Empörung mittlerweile zum guten Ton zählt, in seiner kollektiven Arbeit mit den Schauspielern/Performern/Co-Autoren sehr radikal um. Es gehört dazu, dass die Schauspieler selbst den Knopf für das Einsetzen der Musik drücken und sich gegenseitig Anweisungen beim Vortragen geben, wie etwa das Ganze bitte doch "mit französischem Akzent zu sprechen" - eine Referenz zu Luc Bondy als aktuellen Intendant der Festwochen?

Selma Brechthold (der Name als Referenz zur Brechtschen Anti-Theater-Tradition) verkörpert hier nicht nur die Diskrepanz zwischen einem bildungsbürgerlichem Idealismus und den Forderungen nach einem Theater im Dienste der Gesellschaft im Sinne der Kritischen Theorie, sondern sie ist als Frau sowohl Verliererin wie als Kulturmanagerin auch Mitbeteiligte am System, das die Beförderung von Werten wie Bildung, Kritik, Offenheit zwar groß auf dessen Fahne schreibt, aber angesichts der praktizierten Doppelmoral hinsichtlich Rollenmuster und vordergründigen Idealismus nur noch grotesker wirkt. Am Ende des reflexiven, episodischen und kurzweilig-lehrreichen Abends jenseits der Provokation geht man ein bisschen wie Selma voller perplexer Fragen nach Hause und ist froh, dass es diesen Rest an politischem Theater auf der Suche nach anderen, unabhängigen Formen im subventionierten Theater doch noch manchmal anzutreffen ist. Kompliment an Schwarz für die gelungene schonungslose Versetzung der Streeruwitzschen Wut und Vehemenz in sein eigenes Metier. Die Inszenierung wird noch am 11. und 12. April 2012 am Schauspielhaus Wien zu sehen sein. (Text: Kathrin Blasbichler; Fotos: Alexi Pelekanos)

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Kurz-Infos:
Entfernung von Marlene Streeruwitz
Bewertung: @@@@@
Kritik zur Aufführung am 9.3.2012 im Schauspielhaus Wien