Der bewusste und zweckgerichtete Einsatz der körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte des Menschen zur Befriedigung seiner materiellen und ideellen Bedürfnisse, kurz: Arbeit, steht im Fokus des Theaterstücks "Guter Morgen Marienthal", das am 1. Juli 2011 in Gramatneusiedl Premiere feierte.
Im Rahmen vom Viertelfestival NÖ ging eines der interessantesten Theaterprojekte der letzten Jahre über die Arbeiterbühne der Evonik-Para-Chemie. Ausgangspunkt des Theaterstücks ist der soziographische Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, "Die Arbeitslosen von Marienthal" (1932), von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel, der längst als Meilenstein in der Entwicklung der empirischen Sozialforschung gilt, und Marienthal selbst zum Mythos werden ließ. Der erzählerische Zug und die hohe literarische Qualität - Marie Jahoda, die selbst Gedichte verfasste, wurde dabei maßgeblich von Karl Kraus beeinflusst - kam wiederum Regisseurin Fanny Brunner und Dramaturg Hans-Jürgen Hauptmann zugute, die aus dieser Studie eine lebendige Spurensuche nach diesem Mythos bis hin zu den komplexen Strukturen und Auswirkungen zum Thema Arbeit gestalteten. Lässt das slapstickartige Intro des Stücks Erinnerungen an "Modern Times" (1936) von Charlie Chaplin aufkommen, der in diesem Film den Verlust von Individualität durch Zeitdruck und monotonen Arbeitsabläufen (nicht nur, aber auch) die Industrialisierung kritisierte, so hantelt sich das Team rund um Brunner und Hauptmann in Folge durch ein Zitatenkonvolut, das die Missverhältnisse von z. B. Löhne und Steuern, bis hin zur Frage nach einem Ausweg aus der kapitalistischen Sackgasse, aufwirft. "Guter Morgen Marienthal" ist ein Bildungsstück über die "Wahnsinnigen" (um kurz mal Keynes zu zitieren) "in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, ihren wilden Irrsinn aus dem zapfen, was irgendein akademischer Schreiber ein paar Jahre vorher verfasste."
Dem Theaterpublikum wird auf eindringliche Art vor Augen geführt, dass Menschen nicht rational handeln und die Zukunft im Dunkeln liegt. Es werden jede Menge Assoziationen geweckt, sei es über die Kultur der Verweigerung, sei es über die gespenstische Euphorie des technologischen und technokratischen Fortschrittsglauben, sei es über die Gesetzmäßigkeiten von Funktionsmechanismen und natürlich weckt es Gedankenfelder über die Wegrationalisierung von Menschen. Bisweilen benötigt das Publikum Geduld um den Kern einzelner Passagen zu erkennen, so wenn der fulminant agierende Horst Heiss am Fahrrad eine (mutmaßliche) Vorstandsrede hält. Die Verausgabung von Nerv, Muskel, Hirn als Abstraktion für die Regulation von systemischen Abläufen aller Art, wie wir es z. B. auch aus der Kybernetik kennen. Gehetzt und getrieben. Verschwitzt und geldgierig. Geduld, die belohnt wird. Und wenn das allgemein groß aufspielende Ensemble Katrin Grumeth, Johanna Orsini-Rosenberg, Horst Heiss und Johannes Schüchner in ihren stets wechselnden Rollen die Marienthal-Studie nachspielen, um im nächsten Moment absurde Gourmetrezepte für Menschen die nicht wissen wohin mit dem Geld, aufsagen, weiß man intuitiv, dass Fanny Brunner und Hans-Jürgen Hauptmann ein großes zeitgenössisches Theaterstück gelang - ein Entwurf zur Wahrung der Menschlichkeit, ein Kommentar zu den Auswüchsen unserer Gesellschaftsordnung. Am Ende angelangt ist zwar beileibe kein Optimismus angesagt, aber die ganz große Elegie muss auch nicht herhalten, denn auch wenn sich die ökonomische Weltsituation dramatisch zuspitzt, weil dem Kapitalismus naturgemäß eine objektive Potenz zur (zyklischen) Selbstzerstörung innewohnt, und auch wenn sonst gar nichts mehr frei ist, eines bleibt uns immer erhalten: Der freie Gedanke. (Text und Fotos: Manfred Horak)
Kurz-Infos:
Guter Morgen Marienthal: Ein Stück Arbeit
Bewertung: @@@@@
Kritik zur Premiere am 1. Juli 2011
Evonik Para-Chemie, Gramatneusiedl im Rahmen von Viertelfestival NÖ
Die Marienthal-Studie im Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich
Regie: Fanny Brunner
Dramaturgie: Hans-Jürgen Hauptmann
Technische Koordination: Bruno Salge
Mitarbeit Ausstattung: Andrea Flachs
Produktionsassistenz: Birgit Heigl
PR & Kommunikation: Petra Reichenberger
Live-Musik: Gesangsverein Gramatneusiedl unter der Chorleitung von Birgit Selhofer
Gabelstapelfahrer/in: Josip Samardzic, Nicole Rapp
Darsteller/innen: Katrin Grumeth, Johanna Orsini-Rosenberg, Horst Heiss, Johannes Schüchner
Buch-Tipps:
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Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus - Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft