Berliner Gäste in Wien. Das honorige Maxim Gorki Theater schickt eine Studioproduktion ins pulsierende und unter der erquicklichen Intendanz von Andreas Beck höchst theaterlebendige Wiener Schauspielhaus. Und auch dieser Abend entpuppt sich als Glücksfall, wenngleich angesichts des bearbeiteten Themas einem das Wort "Glück" nur schwer über die Lippen kommt.

"Bulger" heißt das erste, bereits preisgekrönte Stück des Flämischen Juristen und Autors Klaas Tindemanns. Es greift einen authentischen Fall auf, der so unglaublich wie in seiner Abgründigkeit zutiefst menschlich ist. Vor 15 Jahren entführten Zehnjährige einen zweijährigen Buben aus einem Einkaufszentrum und brachten ihn dann um.

Fragen, die niemand stellt. Täter, die niemand kennen will.

Aber nicht der sensationslüsterne Blick auf die Entführung und der Mord stehen im Mittelpunkt dieses packenden, kalten und grausamen Abends. Die Kindertäter, ihre Einsamkeit, ihre Verletzungen, ihr Gefühlsabtötendes Umfeld werden genau, berührend und verstörend gezeigt. Die Anzeichen der sich steigernden Grausamkeit, das Töten von kleinen Tieren, das Zerstören, um Aufmerksamkeit zu erlangen und das Verletzen, als einzige Möglichkeit gegen das sich dauernd dringend meldende Gefühl "ich spür' nix". [Interessanterweise fand ein Teil des Publikums diese brutalen Sequenzen zum Lachen - ich muss mich ja zum Glück in solche Geisteswelten nicht hinein versetzen - erst bei der Kindesentführung verstummte das Gekicher; Anm.] Dieses desaströse Milieu von konsumbetäubter Hoffnungslosigkeit, von schnellen Schlüssen statt langwieriger Erfahrungsprozesse, auch die Art, wie Kinder in eine Verantwortungsrolle für ihr Glück und ihr Leben gedrängt werden, der sie unmöglich gerecht werden können, all das ergibt in Summe den narkotisierenden Cocktail, in dem scheinbar elementare menschliche Regungen und Hemmungen abgetötet werden. Und von da weg sind es kleine, beständige Schritte in Richtung der Katastrophe. Tritt diese ein, haben dann alle, vor allem auch die Boulevardpresse und ihre Adepten, schnelle Erklärungen und vor allem den Wunsch nach schnellen Verurteilungen. Die zehnjährigen Täter wurden tatsächlich danach wie Erwachsene vor Gericht gestellt und inhaftiert.

Schnelle Urteile statt gründlicher Aufarbeitung

Parallelen zu spektakulären Österreichischen Gerichtsfällen der letzten Jahre sind evident. Auch hier der gleiche Reflex. Einzelne werden zu Monstern stilisiert. Die Banalität und Alltäglichkeit der menschlichen Abgründe wird ausgeblendet, ein feiger Schutzmechanismus, damit ja niemand die einfachsten Fragen stellen kann, zum Beispiel danach, wie Lebensverhältnisse verbessert werden könnten und ob der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das kroch.

Die Bühne - ein Puppenheim

Das einfache wie großartige Bühnenbild (Steffi Wurster) eines stark vergrößerten Raums (in den sich die Zuschauer durch eine Luke hinein bücken müssen) mit zerschlissener Grindtapete, Primitiv-Keyboard und überdimensionalen Resopaltisch unterstützt Geschichte und Darsteller/innen. Die Inszenierung spürt genau der Geschichte nach, kommt ohne eigenartige Mätzchen und Exzesse aus und ist auf ganzer Linie gelungen. Auch sei hier vermerkt, dass - im Gegensatz zu fadgasigen Staatstheater-Regieexzesserln - ausnahmsweise einmal die anfallende Bühnensauerei (Schoko, Waschpulver, Verbrennung) wirksam eingesetzt wird und ihre volle Berechtigung hat. Genauso wie die kalt-beklemmenden Videos von Kinderverhören und das dramaturgisch geschickte Eindringen der Bühnenwelt in den Zuschauerraum.

Ein Schauspieler-Fest

Dieser Abend wäre auch nicht annähernd so bewegend geworden, wenn nicht die drei Schauspieler/innen (großartig: Julischka Eichel, Hanna Eichel, Johann Jürgens) so minutiös gearbeitet hätten. Exakte Körperführung, genaue Beobachtung von kindlichen Verhaltensmustern und deren schonungslose Wiedergabe körperlich, emotional und sprachlich, machen diesen Abend zu einem theatralen Ereignis. Die drei sind genau, kraftvoll, berührend, immer auch verstörend und intensiv. Schauspiel auf höchstem Niveau. Schade, dass diese Produktion nur so kurz in Wien weilt. Gar manchem Boulevard-Presse-Konsumenten wäre dieser subtile, durchdringende Fokus auf Täterschaft und Schuldzuweisungen anzuraten. Dieses Stück ist ein chirurgisch scharfer Blick auf ein nur scheinbar unfassbares Verbrechen. Höchst empfehlenswert. (Text: Tristan Jorde; Fotos: Bettina Stöß)

Kurz-Infos:
Bulger - Eine unzulässige Geschichte
Bewertung: @@@@@
Von Klaas Tindemans, aus dem Flämischen von Uwe Dethier
Regie: Nora Schlocker
Nachtkritik von Tristan Jorde zum Gastspiel des Maxim Gorki Theater (Berlin) im Wiener Schauspielhaus am 20.3.2010