"Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder!", ruft ein Kind nach der Vorstellung von "Über Morgen" im Dschungel Wien den Schauspielern zu. Und genau das ist es, was das junge und erwachsene Publikum sich wünscht, die Geschichte noch einmal erzählt zu bekommen. Und noch einmal. Und noch einmal.
"Über Morgen" ist ein Märchen, das das Publikum in seinen Bann zieht. Dem Regisseur gelingt es die poetischen Elemente unbeschadet in eine Gegenwart zu transferieren. Zwei Schwestern haben eines Nachts denselben Traum, sie träumen von einem ungeborenen Brüderchen, das in einem Land hinter dem Horizont lebt, hinter einer Tür, die niemals zu finden ist, in einem finsteren undurchdringlichen Urwald. Die Jüngere will sich sofort aufmachen das Brüderchen zu suchen und heimzuholen, die Ältere will sie freilich davon abhalten. Und so ist es immer. Alize, die Ältere, die Gescheitere, diejenige, die alles kann und alles weiß oder alles können muss und alles wissen muss. Und Gwenny, die Jüngere, die mit dem Kopf in den Wolken lebt, eigensinnig und starrköpfig. Und doch sind sie voll Liebe und Bewunderung für einander. Die Reise zu dem ungeborenen Brüderchen stellt die beiden auf die Probe und verdeutlicht ihnen ihre Positionen. "Einen Tag lang will ich die Ältere sein. Morgen oder Übermorgen", beschwert sich Gwenny und Alize antwortet: "Das geht nicht. Du bist die Jüngere auf immer und ewig, solange du lebst."
Märchenhafte Struktur und poetische Sprache
Und als die Schwestern sich verlieren im undurchdringlichen Urwald haben sie beide eine märchenhafte Begegnung, die sie herausfordert sich einmal wie die jeweils andere zu verhalten. Gwenny hat schwer zu tragen an einer Last, die ganz leicht aussieht (nämlich an einem winzigen Weidenkörbchen, das schwer ist wie Blei). Alize soll sich auf den Boden legen und den Wolken nachschauen. "Du musst dich hinsetzen, sonst kommt das Sitzen nicht zu dir", erklärt ihr die Fee. Gezeichnet und getragen wird das Stück durch seine märchenhafte Struktur, für die Kinder ist alles einfach nur "logisch". Die sehr poetische Sprache wirkt niemals distanziert oder gar abgehoben, sondern schafft es durch kindersprachliche Elemente in die Lebenswelt des jungen Publikums einzudringen. Das Thema, der nie endenwollende Konkurrenzkampf zwischen Geschwistern ist sowieso zeitlos.
Sich permanent behaupten zu müssen
"Über Morgen" ist vor allem ein Stück für ältere Brüder oder ältere Schwestern die an ihrer oft selbst auferlegten Verantwortung für die Jüngeren mitunter schwer zu tragen haben. "Sorgen hab ich", sagt Alize, "Sorgen". Und: "Hätt ich besser aufpassen müssen auf die Kleine. Als Ältere muss man einen Punkt setzen und sagen: 'So, jetzt ist es aus und dann ist es eben auch aus.'" Dargestellt werden die Schwestern von Martina Ambach und Claudia Kottal. Die Musik ist komponiert und live gespielt von Matthias Jakisic (er spielt auch das Brüderchen), wie immer großartig gemacht. "Über Morgen" macht verstehen, was Geschwister haben und Geschwister sein bedeutet, nämlich sich permanent behaupten zu müssen. Das Stück gibt dem jungen Publikum auch die Gelegenheit Kinderzimmer-Streitereien, die wortgetreu auf der Bühne zitiert werden, mal von außen zu betrachten. Ob das zu Einsichten im jungen Publikum führt? Wie Gwenny es ausdrückt: "Wenn wir wollen, sind wir Helden." (Text: Anne Aschenbrenner; Fotos: Claudia Mayer, Dieter Schewig)
Kurz-Infos:
Über Morgen
Bewertung: @@@@@
Die Kritik zum Stück entstand zur Aufführung am 13. Oktober 2009 im Dschungel Wien
Schauspiel mit Live-Musik
Dauer: 50 Minuten
Altersempfehlung: 5+
AUTOR: Roel Adam, erschienen im Verlag der Autoren, aus dem Niederländischen von Uwe Dethier
REGIE: Joost Koning
KOMPOSITION, MUSIK: Matthias Jakisic
BÜHNE, KOSTÜME: Monika Biegler
BÜHNENBAU: Gilbert Marx (Kunstraum 85a)
LICHTDESIGN: Claus Zweythurm
DRAMATURGIE: Johanna Figl
REGIEASSISTENZ: Michael Pöllmann
PROJEKTLEITUNG: Michael Krbecek
AUSSTATTUNGSASSISTENZ: Sarah Hyee
DARSTELLERINNEN: Martina Ambach, Claudia Kottal, Matthias Jakisic