karl_marx_das_kapitalEs war ein Abend der Statistiken, Anekdoten, Meinungen und sonstigen Erinnerungsbruchstücken, Tanzmusik aus Deutschland inklusive. Das hoch geachtete Regiekollektiv Rimini Protokoll brachte im Rahmen der Wiener Festwochen "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band" auf die Bühne und bewies damit, dass man auch mit sperriger Literatur zum Amüsement beitragen kann."

Wer 'Das Kapital' wirklich lesen will benötigt für eine Seite etwa eine Stunde. Um den Inhalt zu begreifen eine weitere Stunde tiefen Nachdenkens. Das macht bei 750 Seiten 1500 Arbeitsstunden, also ein ganz normales Arbeitsjahr, 6 Wochen Urlaub eingerechnet, oder 90 Komplettaufführungen von Wagners 'Ring' am Stück - und da ziehe ich 'Das Kapital' vor.", erklärt Thomas Kuczynski, seines Zeichens Statistiker, Wirtschaftshistoriker und Editor gleich zu Beginn der Aufführung.

Sachliches Theater mit Selbstironie

karl_marx_das_kapital_003Einer Aufführung, der man den Titel "Sachliches Theater mit Selbstironie" umhängen kann, und das mit seiner Kurzweile das Publikum in Entzücken versetzte. Haug / Wetzel vom Rimini Protokoll brachten acht Personen auf die Bühne, die politisch wie gesellschaftlich höchst unterschiedliche Zugänge zu Marx und "Das Kapital" haben. Das Publikum erfährt dabei sehr viel Persönliches, intimes, aus dem Leben der Protagonist/innen und parallel dazu immer auch analytische Auszüge aus "Das Kapital, Erster Band". Das Publikum durfte zeitweise und seitenweise aktiv mitlesen, sich also über einige Hammersätze ebenfalls den Kopf zerbrechen, und man erfuhr, dass es nicht nur (gescheiterte) Lesegruppen gab, sondern auch, dass es einen (offenbar erfolgreichen) Karl-Marx-Rotwein gibt. Elementare Aussagen wie "In ihrer Verlegenheit denken unsere Warenbesitzer wie Faust. Im Anfang war die Tat. Sie haben daher schon gehandelt bevor sie gedacht haben." standen musikalischen Marx-Anlehnungen wie "Der Pleitegeier sitzt im Portemonnaie, nichts ist drin, Geld ist futsch, und das tut weh. Oje." gegenüber - letzteres übrigens eine Coverversion nach dem Simon & Garfunkel-Hadern "El Condor Pasa", mitgebracht von Christian Spremberg, dem blinden Call Center Agent mit der riesigen Plattensammlung, der nicht nur aus "Das Kapital" in der Blindenschrift-Ausgabe vorlas, sondern eben auch einige obskure Platten vorspielte.

Schwachstellen gab es kaum, wenn, dann in Person des jungen Revolutionärs Sascha Warnecke, der ein wenig gestelzt wirkte. Vermutlich war es aber eine Synthese aus Übermotiviertheit und Nervosität. Hervorragend das Bühnenbild - ein Bücherregal, in dem natürlich eine Unzahl an "Das Kapital" stand, aber auch Monitore, die sehr gescheit in die Aufführung eingebunden wurden. Und es gab auch einige freie Flächen - dort durften ab und an die Protagonisten hin. Ein erzählender Kopf im Bücherregal, das hat schon was. Berührend und von großem Schicksal geprägt die Lebensgeschichte von Talivaldis Margevics, dem Historiker und Filmemacher aus Riga, dessen Lebensbericht von der wunderbaren Übersetzerin Franziska Zwerg in die deutsche Sprache geformt wurde. Alleine diese Sequenz ist den ganzen Abend wert, das gesamte Bühnenstück im Übrigen eine klassische Win-Win-Situation.

karl_marx_das_kapital_006_0karl_marx_das_kapital_010Was aus diesem letzten Satz aus dem gerühmten und geschmähten Hauptwerk des wissenschaftlichen Sozialismus in der Ausgabe der Volksrepublik China wurde, erfuhr das begeisterte Publikum ebenfalls, und zwar Dank Jochen Noth, einem früheren Revolutionär und nunmehrigen Unternehmensberater und Dozenten mit Schwerpunkt China und Asien. Dass der Kapitalismus heute so funktioniert, wie es Karl Marx vor 150 Jahren prophezeite, nämlich global, monopolistisch und alle Lebensbereiche durchdringend, sollte, vielleicht als einzige Bedingung bevor man das Stück sieht, im Bewusstsein verankert sein. Wie fiktives Kapital mit all seinen Spekulationsblasen funktioniert bzw. eben nicht funktioniert und wie es sich mit dem Kasinokapitalismus verhält erzählen der ehemalige Spieler Ralph Warnholz und der Autor und Coach Ulf Mailänder in der Rolle des berühmt-berüchtigten Anlageberater Jürgen Harksen [Mailänder war Herausgeber des Harksen-Buchs "Wie ich den Reichen ihr Geld abnahm"; Anm.], jener Anlageberater, der u. a. für Pop-Millionäre und anderen Promis Geld veranlagte und 1300 Prozent (!) Rendite versprach. Einer der wenigen, der damals Lunte roch und schadlos davonkam war übrigens Udo Lindenberg. Etliche Promis waren da schon leichtgläubiger, geldgieriger, wie z.B. Dieter Bohlen. Der offizielle Schaden: 63 Millionen Mark. Im Bühnenstück erzählt Ulf Mailänder [das "Original", Jürgen Harksen, erzählt es in der Film-Doku "Die Hochstapler" von Alexander Adolph; Anm.], wie er einen Manager dazu brachte, ihm für einen angeblichen Flug auf den Mond Millionen zu geben. Man merkt schon: Die Aufführung ging nicht nur in die Tiefe und in die Breite, sondern auch in die Höhe. Ein Lehrstück an Historie, Intelligenz, Wissenschaft, Gesellschaft, Ironie, Selbstbetrachtung. Besser geht's kaum. Muss man sehen. (Text: Manfred Horak; Fotos: Düsseldorfer Schauspielhaus / Sebastian Hoppe)

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Kurz-Infos:
Karl Marx: Das Kapital, Erster Band
Bewertung: @@@@@
Wiener Festwochen

Museumsquartier (Halle G)

Von: Helgard Haug, Daniel Wetzel
Mit: Christian Spremberg (Call Center Agent), Thomas Kuczynski (Statistiker und Wirtschaftshistoriker, Editor), Talivaldis Margevics (Historiker und Filmemacher, Riga), Franziska Zwerg (Übersetzerin), Jochen Noth (Unternehmensberater, Dozent Schwerpunkt China und Asien), Ralph Warnholz (Elektroniker im Öffentlichen Raum, ehemaliger Spieler), Ulf Mailänder (Autor und Coach in der Rolle von Jürgen Harksen, Anlageberater), Sascha Warnecke (Revolutionär, Azubi Medienkaufmann)
Bühne: Helgard Haug, Daniel Wetzel in Zusammenarbeit mit Daniel T. Schultze
Dramaturgie: Andrea Schwieter, Imanuel Schipper
Produktion: Schauspielhaus Düsseldorf
Koproduktion: Schauspielhaus Zürich, schauspielfrankfurt, Hebbel am Ufer Berlin